Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
der erste Hierarch bin, der sich in dieser oder einer ähnlichen Lage befindet. Wenn ein Spruch vorgesehen war, dann wäre er schon vor Jahrhunderten verloren gegangen.
Gilarra gab sich alle Mühe, nicht zu zittern, und drückte die Hand in die Vertiefung. Sie wartete. Und wartete. Rein gar nichts geschah, nichts veränderte sich. Gilarra fror plötzlich. Hatte Myrial sie verstoßen? War sie als Hierarchin ungeeignet? Ängstlich befühlte sie den Handabdruck. War ihr etwas entgangen? Wenn es doch nur nicht so dunkel wäre!
Dann hatte sie es. Unter dem Mittelfinger befand sich eine kleine runde Öffnung. Ganz klar gehörte dort etwas hinein. Etwas, das ihr fehlte. Was konnte es sein? Es hatte etwa die Größe eines …
»Großer Myrial, nein!« Die Öffnung hatte genau die Größe und Form das großen roten Steins am Ring des Hierarchen. Der ihr zu groß und deshalb vom Finger gerutscht war, und den ihr eine dieser Bestien weggeschnappt und in die Lüfte getragen hatte.
Hätte sie nicht am heiligsten Ort von Callisiora gestanden, sie hätte geschimpft wie ein Fischweib. Das war ungerecht! In ihrer Erinnerung blitzte das Bild ihres Vorgängers auf. Er hatte sich getäuscht, und sie ebenfalls. Myrial hatte sein Volk nicht verstoßen, weil er mit Zavahl unzufrieden war. Der Grund lag ganz klar viel tiefer. Es hatte den Anschein, als ob der Gott seiner gesamten Anbeter überdrüssig geworden war und beschlossen hätte, sie für immer zu vernichten.
Wir sind verloren.
Niedergedrückt drehte sie sich um. Nun würde sie denselben finsteren Weg zurückgehen müssen, den sie gekommen war, und alles war vergeblich gewesen. Sie hatte ihr Amt kaum angetreten und war schon am Ende. Wenn sie weiter über Tiarond herrschen wollte, dann würde sie lügen müssen. Als sie die Hälfte der Brücke gegangen war, überkam es sie wie eine Offenbarung.
Und wenn es nun gar nicht so ist? Vielleicht will Myrial mich auf die Probe stellen? Wenn er Zavahl gezürnt hat will er vielleicht sehen, ob der neue Hierarch wirklich würdig ist.
Ob es nun stimmte oder nicht, dies war der dringend benötigte Hoffnungsschimmer. Aber um ihren Platz als Hierarchin zu behaupten, würde sie den Ring wiederfinden müssen, obgleich es ihr unter den gegebenen Umständen wie eine unlösbare Aufgabe erschien.
Bis sie in die laute, helle Welt zurückgekehrt war, stand ihr Entschluss fest. Den Ring würde sie zurückbekommen. Sie musste ihn zurückbekommen. Und sie würde Komplizen brauchen, aber die müsste sie sehr, sehr umsichtig aussuchen. Bis dass der Ring gefunden war, würde sie tun müssen, was Zavahl so lange Zeit getan hatte, und vor den Priestern und ihrem Volk heucheln, dass alles in Ordnung war. Und die Verbündeten mussten ihr Geheimnis wahren. Aber wenn sie nicht außergewöhnlich loyal waren, konnten sie sie jederzeit zu Fall bringen.
Aethon war entzückt über Zavahls Fortschritt. Zwar hätte er gut darauf verzichten können, ein hilfloser Besucher im Hinterkopf eines Menschen zu sein, während dieser kopulierte, doch davon abgesehen war die Erfahrung zweifellos fesselnd gewesen. Viel wichtiger war ihm aber die Hoffnung, dass jeder Schritt, mit dem sich dieser Mann von seinen Ängsten und Vorurteilen entfernte, ihn der Gesprächsbereitschaft und der Kooperation näher brachte.
Eine neue Gelegenheit kam schneller, als der Drache erwartet hatte. Nachdem die Frau sich angezogen und aus dem Zimmer geschlüpft war, rollte sich Zavahl auf dem zerwühlten Bett zusammen und schlief ein. Diesmal traf Aethon auf eine ganz andere Traumlandschaft. Es war noch derselbe See zwischen den Bergen, aber nun schien die Sonne auf ruhiges, klares Wasser. Weiter weg hingen die Sturmwolken noch über den Gipfeln, doch die nächste Umgebung war friedlich.
Auch war es für Aethon einfacher, in den Traum einzudringen. Zavahl stand auf dem Gipfel des Chaikar und schaute auf Tiarond hinunter. Aethon stellte sich neben ihn, noch einmal in der Gestalt Myrials. »So«, begann er, »nun hast du also gelernt, die Vergangenheit hinter dir zu lassen. Du fängst an, die Weisheit zu entdecken, Zavahl.«
»Ich sehe die Dinge klarer, seit wir zuletzt sprachen, großer Myrial.« Seine Haltung war ehrlicher und nicht so kriecherisch. Aethon gefiel diese Veränderung.
»Du verstehst also, dass du auf die Probe gestellt wirst?«
»Ich wünschte nur, es eher begriffen zu haben. Dann hätte ich mich ganz anders verhalten.«
»Du hast gelernt. Das ist das Wichtige. Und du
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