Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
sehe.«
»Sie war sehr tapfer, und du auch, so den Lockvogel zu spielen.« Die andere Stimme klang vage vertraut. Aliana tastete durch den Nebel der Erinnerungen und fand ihren Namen. Heilerin Kaita. Natürlich. Sie war sehr freundlich gewesen. Mit dem Namen kam eine Flut von Bildern, die sie viel weniger leiden mochte. Angefressene Glieder, leere Augenhöhlen. Der Gestank, der ihr noch in den Haaren hing, sie konnte ihn riechen. Die gnadenlose Kälte. Die irren, roten Augen dieses fliegenden Teufels, als er sich über sie beugte, und der Schwall seines heißen, stinkenden Blutes, als sie ihm das Messer in die Kehle stieß …
Ohne zu wissen, wie, fand sich Aliana außerhalb des Bettes wieder und blinzelte ins Lampenlicht. Der dunkle verschneite Platz und seine grausigen Besatzer waren von Kaitas Krankenzimmer und ihrem gedämpften, beruhigenden Betrieb verdrängt worden. Sie hatte nichts als ein Soldatenhemd am Leib, das ihr bis auf die Oberschenkel herabhing und ihre Blöße bedeckte. Die Ärmel hatten sich im Schlaf entrollt und waren länger als ihre Arme.
Die Heilerin und Alestan fuhren erschrocken zu ihr herum.
»Aliana! Du bist wach«, rief ihr Bruder aus und wurde sogleich leise, weil Kaita einen dämpfenden Zischlaut machte. Er eilte bereits auf sie zu und umfing sie mit einem Arm, da der andere geschient in einer Schlinge lag.
»Alestan«, rief Aliana unterdrückt, »was in aller Welt hast du angestellt?«
Er zuckte die Achseln. »Ich bin kopfüber durch die Klapptür auf dem Dach gesprungen, als ich deinen fliegenden Kumpanen aus dem Weg gehen wollte. Ich wünschte, ich hätte es dir nachgemacht und ihnen die Kehle durchgeschnitten.« Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Aber kurz danach wurden sie in tausend Stücke gerissen, weshalb ich mich gleich besser fühlte. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich verletzt war. Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, vor der Explosion wegzurennen. Erst nachher fiel mir auf, wie sehr mir der Arm wehtat. Aber was ist mir dir? Wie fühlst du dich jetzt? Heilerin Kaita sagt, dass du die tapferste Tat vollbracht hast, von der sie je gehört hat.«
Aliana wurde rot. »Danach sah es erst einmal gar nicht aus«, gab sie zu. »Ich hatte so schreckliche Angst, und ich konnte doch nichts anderes tun, als einfach weiterzumachen. Wenn ich nicht meinen ganzen Verstand zusammengenommen hätte, wäre ich davongerannt und die Teufel hätten mich sicher erwischt.« Sie schüttelte sich. »Dann wäre ich jetzt eine Leiche unter Hunderten.«
»Aber das bist du nicht«, warf jemand hastig ein. »Du bist in meinem Krankenzimmer, wo es warm und sicher ist. Dein Bruder ist bei dir, deine Freunde sind in der Nähe, und hier kommt schon dein Frühstück.« Sie drehten sich nach Kaita um, die ein Tablett brachte. »Halte dich nicht damit auf, was hätte passieren können, Aliana«, redete sie weiter. »Wahrscheinlich wirst du nie vergessen, was du erlebt hast, und vielleicht solltest du das gar nicht. Aber du machst alles nur schwieriger, wenn du auch noch daran denkst, was nicht passiert ist. Das führt in den Wahnsinn. Was du vollbracht hast, war eine Großtat. Du hast die Feinde überlistet und uns gezeigt, dass das gelingen kann. Betrachte es in diesem Licht, und du wirst viel leichter mit dem ganzen Schrecken vielleicht fertig werden.«
Aliana wollte nicht weiter darüber sprechen. Es musste etwas geben, um Kaita davon abzulenken. »Was ist das für eine Suppe?«, fragte sie.
Kaita setzte das Tablett mit den beiden Schüsseln auf das Bett. »Ich würde sagen, es sieht aus wie Spülwasser, in dem etwas schwimmt – was da schwimmt, ist mir ein Rätsel und es wäre mir lieber, wenn es so bleibt. Wenn ich meine Kräuter hier hätte, könnte ich dir den Geschmack verbessern, aber so fürchte ich, dass du tapfer sein musst.«
»Und die Steine?« Alestan zeigte auf zwei kleine graue Klumpen, die auf dem Tablett lagen.
»Ach, unsere Köche haben den Dreh noch nicht raus, wie man ohne die richtige Ausrüstung für so viele Leute Brot backt. Aber ihr seid noch jung und habt gute Zähne. Ihr werdet es bewältigen.«
»Also, ich auf jeden Fall«, sagte Aliana. »Und wenn Alestan seines nicht will, nehme ich das auch.«
»Nein, das wirst du nicht!«
Kaita lachte. »Ich muss gehen. Hauptmann Galveron will mich sprechen. Er wird froh sein zu hören, dass du schon auf bist, Aliana.« So eilte sie hinaus.
Sie saßen eine Weile da und aßen ihre Suppe, nagten an dem steinharten Brot
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