Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
ein kleiner Schritt, bis man beschuldigt wird. Ich höre, dass der Hierarch in Tiarond bereits dem Zorn seines gottesfürchtigen Rats zum Opfer gefallen ist. Sie wollten ihn gestern Abend opfern, soweit ich weiß.«
»Aber das ist furchtbar!« Kalt war zutiefst erschüttert. »Und sie erdreisten sich, uns Barbaren zu nennen.«
Der alte Mann zuckte die Achseln. »Wer durch die Götter lebt, der stirbt durch die Götter. Darin liegt eine Lehre für dich, mein junger Freund, auch wenn unsere Schutzgeister nichts mit ihrem Myrial gemein haben, den sie uns fortgesetzt aufdrängen wollen. Die Götter mögen verschieden sein, doch die Menschen sind überall gleich. In schlechten Zeiten wie diesen bleibe auf dem Hauptweg, wandere nicht allein – und achte darauf, was hinter deinem Rücken geschieht.«
Während sie zusammen das Tal durchwanderten, konnte Grimm nicht aufhören, seinen Schüler verstohlen und ängstlich anzusehen.
Kalt nimmt es schwer. Natürlich tun wir das alle, wenn wir zum ersten Mal ein Leben beenden. Doch die meisten Überbringer besitzen nicht dieselben Fähigkeiten, die uns gegeben wurden, und tragen nicht dieselbe Last.
Er dachte daran, wie froh er gewesen war, als er Kalt entdeckte, ein Kind mit einer starken telepathischen Begabung, wie er selbst sie hatte.
Bis dahin habe ich immer geglaubt ich würde eines Tages gezwungen sein, einen gewöhnlichen Jungen in den Gebrauch von Kräutern und Giften einzuweisen, wie es andere Überbringer tun, ihn lehren zu müssen, wie man heilt und anderen seinen Willen aufzwingt – vorgeblich den Willen der Schutzgeister –, aber eben durch Irreführung und Taschenspielertricks, womit sich die meisten meiner Zunft den Anschein geben, geheimnisvolle Kräfte zu besitzen. Damals hielt ich es für ein Wunder, dass ich den Jungen gefunden habe, als ob das Schicksal selbst meinen wahren Nachfolger bestimmt hätte. Und ich habe immer angenommen, dass dies das Beste für seine Zukunft wäre. Bei mir war es freilich anders. Viel einfacher. Ich wurde von den Wissenshütern entdeckt und wurde in den Schattenbund aufgenommen. Und nachdem ich in Gendival gewesen war, sah ich die Welt mit anderen Augen.
Grimm seufzte, während er sich in Erinnerungen verlor und den Freuden und Enttäuschungen seiner Ausbildung zum Wissenshüter nachhing. So vieles hatte er in Gendival gelernt – von dem er das meiste nicht in die Welt tragen oder gebrauchen durfte. Seine Unzufriedenheit mit diesem Zustand hatte dazu geführt, dass er sich mit dem geistreichen und mitreißenden Amaurn verbündete. Da ihm aber der Mut fehlte, aufzustehen und sich zu bekennen, war er einer der vielen heimlichen Unterstützer des Abtrünnigen geworden.
Womit es am Ende auf dasselbe hinausläuft. Wenn ich mutig genug gewesen wäre, mich offen zu erklären, wäre ich niemals Wissenshüter für das östliche Callisiora geworden, und Blank hätte keinen heimlichen Anhänger unter den Rotten.
Im Lauf der Jahre war Grimm immer wieder beeindruckt gewesen, mit welcher Entschlossenheit Amaurn, aus dem Hauptmann Blank geworden war, sich eine so mächtige Stellung verschaffte. Und obwohl er gezwungen war, sehr langsam und vorsichtig vorzugehen, damit Cergorn nicht misstrauisch wurde, hatte er jüngst damit begonnen, geheimes Wissen an die Tiarondianer preiszugeben; das wichtigste unter diesen kleinen Geschenken war das Sprengpulver gewesen, und die Minenbesitzer hatten diese Neuerung erfreut in Empfang genommen. Es war ihm auch gelungen, auf alle drei Schattenbundposten in Callisiora einen seiner Anhänger zu setzen: im Osten, im Süden und in Tiarond selbst. Allerdings war die alte Frau, die den Schlüsselposten in der Stadt besetzt hatte, eine Priesterin im Tempel, unlängst gestorben. Wegen der weltweiten Katastrophen hatte Cergorn sie noch nicht ersetzt. Grimm, der seine eigenen und höchst ungewöhnlichen Boten benutzte, hatte Nachricht an Amaurns Anhänger in Gendival geschickt und einen dann ermutigt, sich freiwillig für den Posten zu melden.
Aber ich wünschte wirklich, er würde sich bald entschließen. Was kann Blank jetzt aufhalten? Es kann kaum noch schlimmer kommen – außer dass die Schleierwand völlig zusammenbricht. Wenn doch nur Cergorn gezwungen werden könnte, etwas von seinem Wissen preiszugeben, doch er hütet es wie ein Hund seinen Knochen. Dabei könnte so viel Leid verhindert werden.
Wieder einmal sah Grimm seinen Gefährten von der Seite an, der mit gesenktem Kopf voranstapfte und
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