Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
gegeben hätte? Du weißt sehr gut, dass es keine Heilung für diese verzehrende Krankheit gibt. Dein Sohn ist jetzt von allen Schmerzen befreit und ist gegangen, um sich bei den Schutzgeistern einzufinden. Ist das nicht besser als Tag für Tag zu leiden und unvorstellbare Schmerzen zu ertragen?«
Der Mann schlug die Augen nieder. Dann brach es aus ihm hervor: »Aber er war so klein – so jung. Warum musste er sterben?«
Grimm seufzte. »Ich weiß«, sagte er leise. »Ich verstehe wahrhaftig deinen Zorn. Es liegt keine Gerechtigkeit in diesem Unglück. Aber geh jetzt zu deiner Frau. Ihr müsst einander trösten und über die schwere Zeit hinweghelfen.«
Damit drehte Grimm sich abrupt um, der schwarze Umhang wirbelte ihm um die Beine, und von Kalt eilig gefolgt verließ er das Haus.
Als sie draußen an der frischen Luft waren, tat der junge Überbringer ein paar tiefe Atemzüge und versuchte sich zu fassen. Doch die Prüfung war noch nicht vorüber. Vor dem Haus wartete ein Haufen Dörfler, sie standen schweigend im Regen. Sie wichen vor den Boten zurück, doch Kalt spürte ihre Feindseligkeit, als hielten sie blanke Klingen auf ihn gerichtet. Er musste sich fest zusammennehmen, um weiterzugehen und ihnen den ungeschützten Rücken zuzukehren. Ihm prickelte die Haut im Nacken, und er erwartete jeden Moment von einem Stein oder einem Messer getroffen zu werden. Hinter ihnen setzte ein Murren ein und wurde lauter, bis Kalt die Worte ›Mörder‹ und ›Dämonen‹ verstand und noch andere Schimpfnamen.
Die beiden Männer gingen zurück durch das enge Tal, der heftige Wind trieb sie vorwärts. An den steilen Hängen zu beiden Seiten mischten sich Violett, Ocker und Grün wie auf den bunt gefärbten Mänteln der Rotten – sofern sie keine Überbringer waren, dachte Kalt traurig, dem fortwährendes Schwarz auferlegt war. Die Pflanzendecke auf den Hügeln war dünn und ließ an vielen Stellen die hellen Spitzen des nackten Kalksteins hindurch. Schafe grasten hier und dort zwischen Heidekrautflecken und Farnen, sie sahen nass und Not leidend aus, ihr dickes Winterfell war dunkel und schwer.
Im Tal weideten die struppigen weißen Rinder, das wichtigste Gut der Rotten. Sie wurden ständig von aufmerksamen Reitern bewacht, die das Vieh vor Räubern schützten und von den eingezäunten Feldern fernhielten, wo Gerste, Rüben und winterhartes Blattgemüse angepflanzt wurde. Sie bebauten jedes geschützte Stückchen Land, nicht zuletzt um die Siedlungen gegen die Tiere abzugrenzen. Die Rinder gehörten einer alten, kaum gezähmten Rasse an und waren bekannt für ihr unberechenbares Temperament, weshalb sie die Menschen auch ohne Herausforderung angriffen. Sie umzingelten das unvorsichtige Opfer, dann richteten sie sich alle auf den Eindringling und stürmten auf ihn los. Sogar die Wölfe, die im Winter die Hügel durchstreiften, begegneten ihnen mit Vorsicht, schlugen einen weiten Bogen um sie und hielten sich lieber an die leicht zu erbeutenden Schafe.
Als die Überbringer die Siedlung hinter sich gelassen hatten, verließ Kalt den Pfad, um eine Weile mit seinem aufgewühlten Gemüt allein zu sein. Doch schon nach ein paar Schritten rief der Meister ihn laut zurück. Der Wind trug die vertraute barsche Stimme zu ihm herüber. »Es ist am besten, wenn wir beieinander bleiben, mein junger Freund. Wir können trauern, wenn wir zu Hause sind. Für gewöhnlich rufen wir genügend Ehrfurcht und Angst hervor, um geschützt zu sein, doch der Vater des Jungen wütete vor Schmerz, und es könnte durchaus sein, dass er uns folgt. Ich will nicht, dass dir an einem einsamen Ort etwas zustößt.«
Kalt erschrak. »Aber sie würden es doch sicher nicht wagen …«, begann er einzuwenden, trat aber sogleich wieder an die Seite seines Meisters.
»Die Zeiten, da sie es nicht wagten, sind vorbei«, erwiderte Grimm, »doch jeder, der ihren Respekt für das Übernatürliche fordert, ob Überbringer, Seher oder der Hierarch selbst, wird feststellen, dass diese Zustimmung in Zeiten von Naturkatastrophen schwindet.« Er hob den Blick zu den regenschweren Wolken. »So war es immer schon.«
»Aber ich dachte, das Gegenteil sei der Fall«, wandte Kalt entrüstet ein. »Ich glaubte, dass die Leute sich ihren geistlichen Führern in der Hoffnung auf göttliche Fürsprache zuwenden.«
»Oh, das tun sie, Junge – zunächst. Aber wenn die Katastrophe anhält, so wie diese, dann fangen sie an, die Ehrfurcht zu verlieren, und dann ist es nur noch
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