Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
ist!
Nachdem sie das Haus verlassen hatte, waren ihre Augen überall, ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Sie erwartete jeden Augenblick, dass sie vom Himmel der Tod ereilte. Am Ende der Seitengasse lag die Esplanade vor ihr, ein tödlicher offener Platz, wie er um jeden Preis zu meiden war. Aliana schluckte heftig und nahm ihren Mut zusammen. Dann wandte sie sich nach rechts, hastete geduckt und so nah wie es irgend ging an den Hauswänden entlang, machte sich möglichst klein und flitzte in jede Deckung wie ein ängstliches Tier. Noch nie hatte sie sich so schutzlos gefühlt, so allein. Verglichen mit dem weiten Platz erschien ihr die breite Straße, die von dort abging, beinahe sicher und heimelig, doch an der Hauswand zögerte sie, die Augen ständig in Bewegung, die Muskeln bereit zum Sprung.
»Hssst! Aliana!« Der Ruf kam so unvermittelt, dass sie sich unwillkürlich wegduckte, herumrollte und mit gezogenem Messer wieder auf die Füße kam, bevor sie begriff, dass die finsteren Jäger wohl kaum ihren Namen wissen konnten. Zornig und beschämt blickte sie um sich – und sah eine dreckige Hand auf der anderen Straßenseite aus einer Gasse winken. Aliana rannte los, ihr Herz hüpfte vor Hoffnung, der sie keinen Namen zu geben wagte. Seit sie von dem verwüsteten Labyrinth geträumt hatte, war sie tief im Innern überzeugt gewesen, dass ihr Bruder tot war. Aber Alestan lebte! Einen Augenblick lang kümmerte sie nichts anderes mehr. In der dunklen Gasse angelangt, zögerte sie, die Arme noch ausgestreckt, erstarb ihr der Freudenschrei auf den Lippen.
Alestan war zerzaust, Gesicht, Hände und Kleider voller Schlamm. Um den Kopf trug er eine schmutzige Binde, in den rotblonden Haaren klebte angetrocknetes Blut. Doch es waren seine Augen, die die wahre Katastrophe verkündeten. Als Aliana ihm ins Gesicht sah, wusste sie, dass sie irgendwie, durch eine unheimliche Gedankenverbindung, die Alptraumbilder aus seinem Kopf aufgenommen hatte. Es war alles wahr gewesen. Ihr Blick irrte ab und begegnete einem zusammengedrängten Haufen kläglicher Gestalten, und es brauchte ihr niemand zu sagen, dass sie die einzigen Überlebenden waren. Diese Handvoll Menschen nur hatte Alestan aus dem Labyrinth lebend herausbringen können.
Aber er ist am Leben! Seine Augen waren der Spiegel ihrer Erleichterung. Lachend und weinend fielen sie sich um den Hals, ungeachtet des strömenden Regens. In diesem Moment zählte nur, dass es den anderen noch gab, und sie empfanden nur ungeheure Freude.
»Was ist passiert?«, fragte Alestan schließlich. »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du tot sein sollst – jedenfalls nicht gleich. Aber als du dann die ganze Nacht fort bliebst und überhaupt nicht mehr zurückkamst, da dachte ich …«
»Ich saß in einem Haus vor diesen Ungeheuern fest.« Aliana schüttelte sich. »Aber was ist bei euch geschehen, Alestan? Im Labyrinth? Warum seid ihr hier?« Sie streifte die anderen mit einem Blick. Sie sahen jämmerlich erschöpft aus.
Gelina, eine der ältesten, war auch dabei. Mit Dreißig habe ich aufgehört zu zählen, sagte sie immer. Sie war eine überragende Hochstaplerin, konnte von der Priesterin bis zur Hure jede Rolle spielen, brach die Herzen der Männer im Handumdrehen und schmeichelte auch dem hartherzigsten Händler das Gold aus der Tasche (ausgenommen natürlich der Dame Seriema). Zum ersten Mal war ihr das Alter anzusehen. Sie ließ die Schultern hängen, das Gesicht war von Gram und Erschöpfung gezeichnet, die grellbunten Röcke durchnässt, schmutzig und blutig, das üppige dunkle Haar zerzaust und strähnig. Tag und Erla, zwei Taschendiebe, die erst acht und zehn Jahre alt waren, drängten sich an sie und umklammerten ihre Hände. Der fünfzehnjährige Tosel, der beste Fassadenkletterer der Stadt, hatte seine großspurige Überschwänglichkeit verloren und kauerte zitternd und mit geröteten Augen an der Mauer.
Der einzig Unbeeindruckte war Packrat. Sein schmales, höhnisch grinsendes Gesicht sah aus wie immer. Aliana hätte darauf gewettet, dass er es schaffte, dabei gab es Gesichter, die sie lieber gesehen hätte. Sein Alter war ungewiss, lag irgendwo zwischen Aliana und Gelina. Er nannte sich selbst einen ehrlichen und hart arbeitenden Dieb. Was nicht angenagelt ist, gehört mir, war sein Wahlspruch. Er wusste mit allem etwas anzufangen, Nahrungsmittel, Geld, Kleider, was immer er fand, das unbewacht war oder das andere nicht mehr wollten. Er würde einer alten blinden
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