Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
ganzes Leben wird völlig umgekrempelt, und die Vorstellungen, an denen du am meisten festhältst, werden zerschlagen werden. Du wirst Dinge sehen, die du lieber nicht sehen wolltest, und an Orte gelangen, an die du nicht gehen willst. Es wird hart und unerfreulich und beängstigend werden. Es wird dich schmerzen und du wirst an dir zweifeln, wie du es dir nicht vorstellen kannst.«
Elion nahm Zavahl bei den Schultern. »Aber du wirst es nicht allein durchstehen müssen. Ich werde dir helfen, so gut ich kann, und auch meine Gefährten. Wenn du wirklich etwas gutmachen willst, hier ist deine Gelegenheit, und wenn du dabei manchmal leiden musst – nun, dann nur zu deinem Besten. Dies ist die einzige Gelegenheit, um dich zu versöhnen, Zavahl: mit deinem Gott, deinem Volk und mit dir selbst. Und dabei kannst du allerhand tun, das viel nützlicher und wirkungsvoller ist, als sich am Pfahl verbrennen zu lassen. Außerdem könnte es sein, dass aus dieser misslichen Lage viel Gutes erwächst. Du könntest neue Freunde finden, ein neues Leben anfangen oder dich entwickeln, wie du es jetzt nicht für möglich hältst.«
Der einstige Hierarch schüttelte den Kopf. »Ich weiß einfach nicht …«
»Komm schon«, drängte Elion, »dein Leben ist an seinem Tiefpunkt angelangt. Was hast du zu verlieren, wenn du uns hilfst?«
Meine Rechtschaffenheit? Meine unsterbliche Seele? Meine falschen Vorstellungen? Oder einfach nur meinen Verstand?
Zavahl zögerte. Wie dieser Fremde ihm Hoffnung und zugleich Freundschaft versprach, machte ihm in gewisser Weise mehr Angst als Blank es je vermocht hatte. Das ganze Leben war für ihn vorgezeichnet gewesen, klar und einfach. Nun war ihm dieser Pfad unter den Füßen fortgerissen worden, wie von einem reißenden Fluss, und dieser Elion verlangte von ihm, tief Luft zu holen und hineinzuspringen, sich ebenfalls fortreißen zu lassen.
Und wenn ich ertrinke?
Was habe ich zu verlieren? Und wenn dies die einzige Gelegenheit ist, um mein Volk zu retten?
Zavahl war immer allein gewesen. Er glaubte nicht, es noch länger ertragen zu können. »Also gut«, sagte er schließlich. »Du hast mein Wort, dass ich helfen werden – wenigstens fürs Erste.«
Elion grinste und schlug ihm auf die Schulter. »Guter Mann! Und nun willst du sicher eine Menge wissen, aber ganz bestimmt ist es besser, wenn du dir die Fragen aufhebst, bis wir an unserem Bestimmungsort sind.«
»Wann wird das sein?«
»Wir werden uns hier noch ein paar Stunden ausruhen, dann reiten wir bis in die Nacht hinein weiter. Morgen früh werden wir dort sein.«
Dass es so bald sein würde, heiterte Zavahl enorm auf. Vielleicht hatte er sich wirklich darin getäuscht, dass sie die Schleierwand durchschritten hatten. Er hätte den neuen Gefährten gern deswegen gefragt, doch er getraute sich nicht. Solange dieser nichts sagte, konnte er sich vormachen, er befände sich noch in Callisiora.
»Die Pest soll mich holen!« Elion unterbrach seine Gedanken in einem sehr günstigen Moment. »Ich habe dir Essen gebracht und es dann glatt vergessen.« Er hob den Teller auf und hielt ihn Zavahl hin. »Es tut mir Leid, wird inzwischen halb gefroren sein. Aber es sollte trotzdem ganz gut schmecken.«
Das tat es. Plötzlich merkte Zavahl, wie hungrig er war.
In der zeitlosen Leere der Nebenwelt, wo Thirishri gefangen war, entdeckte sie soeben, das sie nicht allein war. Ruhig und ernsthaft lächelte die Frau einer sehr verblüfften Thirishri entgegen. »Willkommen, meine Liebe. Wie gut tut es, nach so langer Zeit Gesellschaft zu bekommen. Und wie schade, dass du keinen Tee trinkst. Ich habe eine Ewigkeit damit verbracht, den Geschmack so zu treffen.«
Thirishri beobachtete sie mit wachsendem Unglauben. Die Frau schien nicht jung zu sein, nach menschlichen Maßstäben, aber ihr Gesicht mit der gebogenen Nase und den hohen, ausgeprägten Wangenknochen besaß eine herbe, gebieterische Schönheit, die von den Wirkungen der Zeit nicht verwischt worden war. Das Haar hing ihr lose über den Rücken herab und hatte nicht die Andeutung einer Welle oder Locke, es war schwarz, ein paar Haare glänzten silbern. Doch wenn sie den Kopf bewegte, schimmerte es in allen Regenbogenfarben, wie die Morgensonne auf den Schwingen der Raben. Ihre Augen waren enzianblau, aber in einem so dunklen, leuchtenden Farbton, wie Thirishri ihn noch nie gesehen hatte. Die Farbe passte genau zu ihrem Kleid, das ihrer langen, hageren Statur schmeichelte.
*Lass den Tee.*
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