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Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines

Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines

Titel: Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Furey
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Beine wegzureißen. Dabei kam ihm langsam zu Bewusstsein, dass dies erst der Anfang war. Er formte mit den Händen einen Trichter und rief: »SCALL!«
    Wie er gehofft hatte, steigerte der Tunnel die Lautstärke und trug den Schall abwärts. Ganz schwach hörte er eine Stimme antworten: »Tormon?«
    »Überschwemmung! Steige hinauf, Junge! Klettere auf den Steg!« Ohne auf eine Antwort zu warten, folgte er Seriema so schnell er konnte die Leiter hinauf.
    Und keinen Augenblick zu früh. Die Flutwelle hatte den Rand der Ebene erreicht und stürzte über die Kante. Das meiste Wasser floss harmlos in den Abgrund und nur wenig – jedoch genug – wurde von dem Felsweg aufgefangen, der es wie eine Rinne in den steil abwärts führenden Tunnel schleuste, wo es mit beängstigender Schnelligkeit hindurchrauschte.
    Das Wasser brauste mit einem Lärm heran, als ginge die Welt unter, wie rollender Donner hallte es durch den Tunnel. Braunes, schäumendes Wasser riss an Tormons Füßen, als er die Leiter erklomm. Atemlos zog er sich auf den rostigen Steg neben Seriema, die mit angezogenen Beinen dasaß, die Hände um das eiserne Geländer klammerte und auf die Schwindel erregende Flut hinabstarrte, die nicht weit unter ihr dahinbrauste.
    »Bist du wohlauf?«, rief er, als er ihre Blässe bemerkte.
    Sie nickte. »Es geht mir gut. Mir sind nur die Knie ein wenig weich geworden. Es war wirklich entsetzlich, als das Wasser hereinbrach, obwohl ich wusste, dass es kommen würde. So etwas habe ich nicht erwartet.«
    Er war überrascht, dass sie ihre Angst eingestand.
    Wieder sah sie auf die Strömung hinunter. Der Anblick erschreckte und fesselte sie. »Wird es bis zu uns heraufsteigen, was meinst du?«
    »Wir sollten beten, dass das nicht passiert«, antwortete Tormon finster, »denn wir können nirgendwohin. Lieber Myrial, ich hoffe, der arme Kerl konnte sich rechtzeitig in Sicherheit bringen.«
    Seriema antwortete nicht, aber wie sie seinen Blick mied, sagte ihm, dass sie wenig Hoffnung für Scalls Überleben hegte.
     
    Sie waren dagewesen. Aliana sah sich in dem verwüsteten Labyrinth um und merkte, wie sie zu zittern anfing. Sie hatte sich getäuscht: Die Diebeshöhle war nicht sicher. Diese Missgeburten der Nacht hatten ihr Zuhause gefunden. Während sie durch die stillen Gänge und Hallen wanderte sah sie ein Schreckensbild nach dem anderen. Die Zelte und groben Verschläge, die so vielen Menschen einen dürftigen Unterschlupf gewährt hatten, waren zerrissen und niedergetrampelt. Die armseligen Habe lag zerstreut: die Kochtöpfe umgeworfen, das Essen verschüttet und am Boden erstarrt, die Tassen und Teller zerbrochen, Scherben überall, geflickte Kleider und fadenscheinige Laken lagen in Haufen durcheinander, und alles war voller Blut.
    Die engen Gänge und Höhlen, die Generationen von verarmten, schließlich enteigneten und vergessenen Tiarondianern in schweißtreibender Arbeit in den Berg gehauen hatten, waren ihnen zur Falle geworden. Die Leichen der einstigen Bewohner lagen zwischen ihren verstreuten Besitztümern, sie waren aufgerissen, zerfleischt, zerstückelt. Viele sahen nur noch aus wie ein Klumpen rohes Fleisch. Aber da lagen auch welche, die sie an einem Kleidungsstück erkannte, oder an einem billigen Schmuckstück oder, was am schlimmsten war, an dem vertrauten und geliebten Gesicht.
    Aber nirgends ein Zeichen von Alestan.
    Aliana rief laut nach ihrem Bruder und fuhr aus dem Schlaf auf, die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, wo sie war, und die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht mischten sich mit den Bildern ihres Alptraums, bis sie kaum noch unterscheiden konnte, wo der Traum endete und die Wirklichkeit anfing. Am Ende mündete alles in einen einzigen Gedanken und nur dessen war sie sich völlig gewiss: dass sie so schnell wie möglich nach Hause und zu ihrem Bruder gelangen musste.
    Nach dem Verständnis der Reichen war das Labyrinth ein Schandfleck der Heiligen Stadt, ein Makel für ihr Ansehen. Dieser Ort und seine Bewohner wurden nur im Zusammenhang mit Verwünschungen und Klagen genannt, und lieber noch dachte man überhaupt nicht an sie. Aber für die armen Teufel, die ums Überleben kämpften, kein Auskommen, kein Heim und keine Zukunft hatten, waren die Höhlen eine Zuflucht, die ihnen Myrial persönlich geschickt hatte. Sie waren der seidene Faden, an dem ihr Leben hing. Für die Diebe der Stadt bot das Labyrinth noch mehr Möglichkeiten. Da das

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