Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Welt wussten, waren diese Geschichten alle »in einem fernen Land« angesiedelt, und die meisten Leute hielten sie für erfunden. Doch diese Leute, und sogar die meisten im Schattenbund, hatten noch nicht gesehen, was Thirishri gesehen hatte: Weit im Osten hinter dem Ozean lag eine undurchdringliche, graue Barriere in Form einer Kuppel, die ein großes Gebiet überspannte. Was lag darunter? Land oder Wasser? Niemand wusste es. Aber sie hatte Äonen überdauert, die einzige Barriere, die die Wissenshüter nicht zu durchdringen vermochten. Sie war so fest gefügt, dass die Schleierwand dagegen wie durchlässige Gaze erschien.
Was hatte dieses Volk sich zu Schulden kommen lassen, dass man es vollkommen hat absondern müssen? Thirishri brannte so sehr darauf, alles zu erfahren, dass sie mit tausend Fragen heraussprudelte und in einem unverständlichen Wortschwall endete.
Die Frau lachte. »Geduld, meine Freundin. Ich werde mein Bestes tun, um dir alles zu erklären. Es war natürlich unser Stolz, der uns ins Verderben brachte. Das magische Volk ließ sich für gewöhnlich in zwei Kategorien aufspalten, die Störenfriede und die Eroberer. Die Störenfriede meinten es gut. Sie wollten ihre Macht dazu benutzen, um primitiveren Völkern zum Fortschritt zu verhelfen – ohne einmal zu bedenken, dass ihre Auffassung von Fortschritt bei einem Volk mit einer anderen Geschichte vielleicht mehr schaden als nutzen würde. Die Eroberer dachten noch viel einfacher. Für sie war ganz klar, dass geringere Wesen dazu geschaffen waren, ihnen zu dienen, und deshalb versklavt werden sollten.«
Sie breitete ihre dünnen Arme in einer hilflosen Geste aus. »Die Folgen waren unvermeidlich. Als wir hierher kamen, wo wir viele andere Völker in unmittelbarer Nähe hatten, war die Versuchung für beide Gruppen unwiderstehlich.«
*Aber woher wussten sie es?*, fragte Thirishri dazwischen. *Soweit der Schattenbund herausgefunden hat, kannten diese Völker ihren wahren Ursprung nicht mehr. Fast so als hätte man ihre Erinnerung verfälscht.*
Helverien nickte. »Bei den meisten war das auch so. Die Schöpfer wollten, dass ihre kleinen Brutkolonien innerhalb der neuen Grenzen glücklich sind, sich nicht nach Einfluss und Eroberung sehnen oder wie in manchen Fällen nach einer Erweiterung des Speisezettels. Es gibt einige sehr streitlustige Spezies auf Myrial, wie du weißt – Magier und Menschen inbegriffen.«
*Aber das sind nicht die Schlimmsten*, wandte Thirishri ein und dachte an die Ak’Zahar. *Längst nicht.*
»Vielleicht nicht, aber abgesehen von jenen, die diese Welt erschaffen haben, waren die Magier die mächtigsten und ganz entschieden die listigsten von allen. Aufgrund ihrer Kräfte konnten sie ihren Geist gegen die Auslöschung ihres Gedächtnisses abschirmen, während die Vergangenheit anderer Völker aus deren Erinnerung gelöscht wurde. Aufgrund ihrer Magie waren sie fähig, ihre Machenschaften vor den Schöpfern zu verheimlichen. Sie führten ihre Forschungen verschwiegen und geheim durch, und hatten im Nu herausgefunden, wie die Schleierwand zu durchdringen war. Damals lernte ich eure schöne Insel kennen, meine Freundin. Als Chronistin meines Volkes hatte ich ihre Fortschritte aus der Nähe zu verfolgen, und es gehört zu meinen glücklichsten Erinnerungen, als ich heimliche Besuche in die anderen Reiche unternahm, um unsere Nachbarn auszuspionieren.«
Sie seufzte. »Hätten wir uns doch nur damit begnügt, unsere Neugier zu befriedigen. Bis dahin waren die Störenfriede und die Eroberer vollkommen einig gewesen. Ihr gemeinsames Ziel war es gewesen, die Schleierwand zu durchstoßen, die sie absonderte und ihren Ehrgeiz drosselte. Als das jedoch vollbracht war, stritten sich die beiden Gruppen darüber, wozu das neue Wissen genutzt werden sollte. Zum Glück für die übrige Welt«, meinte sie bissig, »denn da sie sich untereinander bekämpften, verzögerte sich der Plan, in die anderen Reiche einzufallen, und dafür kann man nur dankbar sein. Wären ihre Machenschaften erfolgreich gewesen, dann hätten sie gehaust wie der Fuchs im Hühnerstall.«
Helverien schwieg eine Weile gedankenverloren. Thirishri, gerührt von der Traurigkeit in ihrer Miene, nahm Rücksicht, bis am Ende ihre Neugier siegte. *Und was geschah dann?* Doch sie fühlte beklommen, dass sie die Antwort bereits kannte.
Die Magierin schaute auf, als sähe sie Thirishri zum ersten Mal. »Es durfte nicht so weiter gehen«, sagte sie rundweg. »So dachte ich
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