Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Thirishris Antwort war schroff, fast schon grob – ein sicheres Zeichen, dass sie gleich die Fassung verlieren würde. *Wer bist du und was tust du hier?*
»Wie du schon erraten haben musst, bin ich eine Gefangene wie du.«
*Aber woher kommt diese Landschaft? Der Ozean und die Insel und die Sonne?*
Die Frau lächelte wieder, dasselbe glückselige Lächeln wie vorher, mit einer Spur Herablassung, und es trieb Thirishri an den Rand des Wahnsinns. »Nun, ich habe sie gemacht. Ich schuf sie alle aus dem Gedächtnis, nach meiner Vorstellung. Aus Verzweiflung, Einsamkeit und Sehnsucht. Du weißt selbst, wie schrecklich die Leere ist …« Ihre Stimme hatte einen spröden Klang bekommen, und der Luftgeist sah, wie sich ihre knochigen Finger fest um das dünne Porzellan schlossen. Als die Frau von der Tasse aufschaute, blitzte in ihren Augen etwas auf, das dem Wahnsinn sehr ähnlich sah. »Um mein Dasein erträglich zu machen, brauchte ich einen gewissen Halt, also dachte ich an meinen liebsten Ort in der Welt, der voller Wärme und Licht und Farben war, und baute mir ein Haus. Ich bin schon so lange hier, dass meine Vorstellungen Wirklichkeit geworden sind. Jedenfalls so wirklich wie nur irgendetwas an diesem bösen Ort sein kann.«
Thirishri verstand vollkommen. Hatte sie nicht etwas sehr Ähnliches getan, als sie sich und ihre Gedanken dieser Leere ausgeliefert sah? Aber diese arme Frau musste schon eine überwältigende Zeit lang hier gefangen sein, wenn ihre Phantasien eine stoffliche Form angenommen hatten! Den Gedanken zu Ende denkend, kam sie zu dem offensichtlichen Schluss und fragte: *Aber was passiert, wenn …?*
»Wenn ich sterben musste? Würde mein kleines Reich ohne mich überleben? Wer könnte das sagen? Aber das wird nicht geschehen.« Einen unbedachten Augenblick lang offenbarte sich in ihrem Gesicht eine ungeheure Erschöpfung, und in ihren Augen stand nackte Qual.
»Niemand stirbt hier, meine Freundin. Wir müssen immer weiter leben, unverändert bis in alle Ewigkeit. Diesen leichten Ausweg haben wir nicht, uns bleibt keine willkommene Reise in das Vergessen. In seiner großen Weisheit« – sie spie die Worte aus – »hat mein Volk das endgültige Gefängnis geschaffen.«
Thirishri erstarrte, während sie in der Luft trieb. *Dein Volk?*
Wieder erschien dieses Lächeln mit der Andeutung des Wahnsinns. »O ja, meine Liebe. Erkennst du nicht die Art deiner Zellengenossin? Es kränkt mich ein wenig, dass mein schlimmer Ruf der Zeit nicht standgehalten hat. Ich bin Helverien, verachtete Verräterin an meinem Volk, und man hat mir versichert, dass mein Name über alle Generationen des magischen Volkes hinweg verflucht und geschmäht werden würde, bis ans Ende aller Zeiten.«
Aus einem plötzlichen Stimmungswechsel heraus lächelte sie den Luftgeist schalkhaft an und zwinkerte. »Wenigstens habe ich das gehofft«, fügte sie hinzu. »Ich würde es hassen, wenn ich all den Ärger und die Unannehmlichkeiten durchgemacht hätte, nur um hier reingestopft zu werden, wo mich niemand sieht, wenn keiner an mich denken und ich der Vergessenheit anheimfallen würde.«
*All den Ärger?*, fragte Thirishri verwirrt. *Was hast du getan, um ein so grausames Schicksal zu verdienen?*
Helverien zuckte die Achseln. »Nun ja, es war vielleicht doch nicht so schrecklich, wie die Dinge sich entwickelt haben, wenn man es insgesamt betrachtet. Es hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Weißt du, um die Bewohner dieser unglaublichen Welt zu retten – jedenfalls war das damals mein Grund –, händigte ich die tiefsten Geheimnisse des magischen Volkes an die Schöpfer aus. Und wie du sicherlich weißt, benutzten sie unsere Kenntnisse, um uns unsere Magie zu nehmen und uns für immer gefangen zu halten.«
Thirishri staunte. Sie hatte die Legenden vom magischen Volk immer nur halb geglaubt, von dem es hieß, sie seien ein herrschsüchtiges und gnadenloses Geschlecht, das unglaubliche geheimnisvolle Kräfte besitze. Die Kinder aller Völker kannten diese Geschichte in der einen oder anderen Gestalt, die durch endloses Weitererzählen verändert und verzerrt worden war. Sie beschrieb den Fall der Zauberer, wie sie in ihrem Hochmut gewagt hatten, die Götter selbst herauszufordern, und dann ihrer Kräfte beraubt und hinter eine undurchdringliche Barriere verbannt worden waren, sodass sie sich nicht mehr in die Belange der Welt einmischen konnten. Da die meisten Bewohner Myrials nichts über Ausdehnung und Beschaffenheit ihrer
Weitere Kostenlose Bücher