Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Familie nicht mehr gab, die hier gewohnt hatte, gab ihr einen schmerzhaften Stich. Überall war zu sehen, mit wie viel liebevoller Aufmerksamkeit sie ihr Heim ausgestattet hatten. Die Möbel und der hölzerne Kaminaufsatz waren kunstvoll geschnitzt. In den Zimmern hingen prächtige Wandteppiche. Die geknüpften Teppiche auf dem Boden und die leuchtend bestickten Kissen auf den Sesseln zeugten von großer Kunstfertigkeit. »Mir scheint, sie sind beide Handwerker des Tempels gewesen«, flüsterte Galveron. »Er ein Schnitzer, und sie hat wahrscheinlich die großen Wandteppiche und die Roben der Priester gestickt.«
Aliana schnaubte. »Was macht dich so sicher, dass es nicht andersherum war?«
Das untere Stockwerk war verlassen, ebenso die Schlafzimmer oben. In der Küche hing scharfer Brandgeruch. Er stammte von einem vergessenen Schmortopf, der über der Asche im Herd hing. Sein Inhalt war zu einem trockenen, schwarzen Klumpen erstarrt. Vermutlich hatte das ihr Abendessen nach dem Großen Opfer werden und über dem Feuer köcheln sollen, damit es fertig war, wenn die Familie heimkehrte. Aliana biss sich fest auf die Lippe. Was für ein trauriger Ort! Auf seine Art strich er das schiere Ausmaß des Unglücks, das über Tiarond gekommen war, viel eindrücklicher heraus als die verwesenden Leichenhaufen im Tempelhof.
Sie schauderte. Plötzlich kam ihr die Zankerei mit Galveron dumm und unbedeutend vor. Sie fing seinen Blick auf und wusste, dass er haargenau dasselbe dachte. Nachdem sie eine stumme Entschuldigung getauscht hatten, waren sie wieder im gleichen Boot. »Lass uns von hier verschwinden, Galveron«, flüsterte Aliana. »Es ist Zeit. Wir haben das Haus von oben bis unten durchsucht und keinen Säugling gefunden. Wir müssen uns geirrt haben.«
Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Aber ich bin sicher, dass ich ein Kind gehört habe.«
»Ich auch.« Aliana zuckte die Achseln. »Aber hier ist nichts. Es muss eine Katze oder dergleichen gewesen sein, und Gilarra würde nicht dulden, dass wir ein Tier mitbringen, das ihre kostbaren Vorräte frisst.«
Galveron seufzte. »Kannst du mit ihr nicht ein wenig nachsichtiger sein? Bitte. Bedenke, dass sie eine schwierige Aufgabe zu meistern hat. Überlege nur mal, wie du es an ihrer Stelle schaffen würdest. Wie dem auch sei, ich meine, eine Katze wäre gar nicht so schlecht. Quartiermeister Flint hat sich über das Ungeziefer in den Vorratshöhlen beklagt.« Er schwieg für einen Moment, seine Brauen zogen sich nachdenklich zusammen. »Ich bin mir dennoch sicher, dass das keine Katze war, was wir gehört haben.«
Er hob ein wenig die Stimme. »He! Ist hier jemand?«
Kurz war es still, dann kam von unten ein schwacher Ruf. »Myrial steh uns bei!« Galveron schlug eine Faust in die Hand. »Es gibt noch einen Keller.«
Nach kurzer, hastiger Suche entdeckten sie, dass der Teppich in der Küche eine Falltür verbarg. Aliana fand eine kleine Öllampe und Galveron zündete sie an, dann stiegen sie durch die Öffnung auf einer wackligen Leiter hinab, die als Treppe fungierte. Am Fuße angekommen, hielt Galveron die Lampe hoch, um den Raum zu beleuchten.
Der Keller war sehr klein und stank nach verwesendem Blut und Kot. An der Wand zu ihrer linken waren Regale aufgereiht, die einst die Vorräte des Hauses beherbergt hatten, nun aber fast geleert waren. Zur rechten befand sich ein langer Tisch mit zerkratzter Oberfläche, der aber fleckenlos sauber war. Die Schnitzwerkzeuge waren in einer verschwenderisch verzierten Truhe untergebracht, und zwischen Tisch und Treppe stand eine Drechselbank. Aber Aliana und Galveron sahen nicht dorthin. Ihre Aufmerksamkeit galt der entgegengesetzten Ecke, wo etliche Kisten und Kästen und ein, zwei zerbrochene Möbelstücke aufgestapelt waren. Hinter diesem Haufen ausgesonderter Dinge kam ein schwacher, jämmerlicher Ruf hervor. »Bitte, helft mir.«
Sie sprangen dorthin, und Aliana hielt die Lampe, während Galveron die Kisten fortzog. Im hintersten Winkel, in einem Nest aus blutdurchtränkten Laken, fanden sie eine zerzauste Frau mit grauem Gesicht, die vor dem Licht zurückschreckte. An ihrer Seite hielt sie, in einen alten Mehlsack gewickelt, einen winzigen Säugling.
Aliana war vor Mitleid und Entsetzen wie erstarrt. Sie fühlte sich völlig außer Stande, diesem armen, unglücklichen Geschöpf zu helfen. Nicht so Galveron. Er nahm ihr die Lampe aus der Hand und kniete sich neben die Frau.
»Seid ihr wirklich da?«, fragte sie
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