Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Funde schützte und verbarg. Er hätte noch den ganzen Tag so dagestanden, wäre nicht von drinnen eine plötzliche Aufregung gekommen. Es gab einen langen, tiefen Klagelaut, begleitet von einer weiblichen Stimme, die schrille Flüche ausstieß. »Raus mit dir, du abscheuliches Ungeheuer! Raus, raus, du verdammtes Scheusal!«
Scall gefror das Blut in den Adern. Hatten die Überbringer einen furchtbaren Dämon beschworen? Was tat er der Frau da drinnen nur an? Er wusste, er sollte ihr zu Hilfe eilen, aber er war vor Schrecken wie angewurzelt. Plötzlich flog die Tür auf, und ein riesiger Unmensch mit weißem Gesicht und Hörnern und voller Haar tauchte drohend aus der Dunkelheit auf. Scall stieß einen Schrei aus. Gespaltene Hufe klapperten über die Türschwelle, dann stürzte das Ungeheuer an ihm vorbei, schnaubte ihm seinen heißen Brodem ins Gesicht und stieß ihn zu Boden, wo er zappelnd und sich windend im Morast landete.
»Blöde Kuh!«, schrie die Frau aus dem Turm. »Die wäre ich los! Beim nächsten Mal, wenn ich dich in meinem Vorratsraum finde, gibt’s Steak zum Abendessen!«
Eine Kuh. Ach, lieber Myrial, was bin ich für ein Dummkopf. Ich mache mir in die Hosen wegen einer gewöhnlichen Kuh.
Scall wand sich innerlich vor Verlegenheit und fand gerade wieder auf die Beine, als die Besitzerin jener Stimme einen Besen schwingend in der Tür erschien. Langsam ließ sie die Waffe sinken und starrte ihn verblüfft an. Die Frau war jung und hübsch, und ihr Mieder war ein gut Teil tiefer ausgeschnitten, als es in Tiarond üblich war. Scall spürte, wie er rot wurde. Plötzlich konnte er, was ihn zutiefst beschämte, den Blick nicht mehr abwenden. Von seiner Verlegenheit augenscheinlich nichts ahnend – oder sie war diese Art Wirkung auf Männer gewöhnt, wie Scall dachte –, reichte sie ihm die Hand und half ihm aufzustehen. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie spöttisch zu, wie er sich an seinem in Auflösung befindlichen Bündel festhielt und gleichzeitig versuchte, sich den Staub aus der Hose zu klopfen. »Wer zum Henker bist du denn?«, verlangte sie zu wissen.
»Ich – ich bin Scall.« Angestrengt heftete er den Blick auf ihr Gesicht. Wäre da nicht weiter unten die Ablenkung gewesen, so hätte sich dessen Betrachtung sehr wohl gelohnt. Er setzte mit der Stimme tiefer an, um männlicher zu klingen. »Wir – das heißt, meine Gefährten und ich – sind Gäste von Häuptling Arcan. Wir sind gestern von Tiarond gekommen. Ich möchte mit den Überbringern sprechen.«
Ihre Augenbrauen gingen in die Höhe. »Du möchtest mit ihnen sprechen? Das ist ja mal was Neues! Dann komm mit herauf. Folge mir.« Sie drehte sich um und ging hüftschwingend in den Turm. Als sie so vor Scall die Treppe hinaufstieg, stellte er fest, dass der Anblick von hinten fast so gut war wie von vorne.
Der Turm war, wenngleich kleiner und mit einem anderen Grundriss, ähnlich angelegt wie Arcans Festung. Zu ebener Erde waren die Tiere untergebracht, auf dem nächsten Stockwerk befanden sich die Vorratsräume, und dann führte eine eng gedrehte Wendeltreppe weiter hinauf zu den Stockwerken mit den Wohnräumen. Unterdessen redete die Frau ununterbrochen. »Diese verdammte Kuh! Es tut mir Leid, dass sie dich umgestoßen hat. Aber leider sind die Überbringer in sie vernarrt. Sie haben sie dermaßen mit Leckerbissen verzogen, dass sie nicht mehr mit den anderen in die Heide hinaus will, sondern sich den ganzen Tag lang im Turm herumtreibt und anderen zur Plage wird. Als sie noch ein Kalb war, fand Kalt es sehr lustig, ihr das Treppensteigen beizubringen. Jetzt ist es ein Albtraum, sie wieder hinunterzuscheuchen. Sie hat heute Morgen meinen Vorratsraum übel zugerichtet, ausgerechnet heute, wo ich nicht die Zeit habe, mich auch nur umzudrehen. Das ist eine Kuh, sage ich ihnen immer wieder, aber sie …« Mitten im Satz brach sie ab und schrie die Treppe hinauf: »Überbringer Grimm! Überbringer Kalt! Hier ist Besuch für euch.«
Scall wunderte sich, warum sie ihn schreiend ankündigte, anstatt ihn beim Eintreten vorzustellen. Das kam ihm sehr grob vor. Dann begriff er plötzlich, dass sie die Überbringer warnte, damit sie rechtzeitig ihre Masken aufsetzen konnten – und in dem Augenblick verwandelten sich für ihn die geisterhaften Gestalten, die ihn noch gestern so geängstigt hatten, in gewöhnliche Menschen.
Aber natürlich, sie können die Masken ja nicht ständig tragen. Es wäre fürchterlich unbequem. Komisch,
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