Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
ich habe mir überhaupt nicht vorstellen können, dass sie ein richtiges Zuhause haben und ihre Lieblingskuh verwöhnen und all so was.
Am Ende der Treppe gab es eine schwere Tür. Die Frau klopfte flüchtig und ging sofort hinein. Scall folgte ihr – und hielt verblüfft inne. Das Zimmer war warm, heiter und behaglich, ein unerwarteter Gegensatz zur äußeren Erscheinung des Turms. Er bestaunte die dicken, bunten Wandteppiche, die Schaffelle, mit denen die tiefen Sessel vor dem lodernden Kaminfeuer ausgepolstert waren, den warmen Glanz der Wandborde und Truhen und das anheimelnde Durcheinander von Büchern und Teetassen auf dem Tisch.
Also, wer hätte das gedacht?
Eine Gestalt im schwarzen Umhang kniete in einer Ecke vor den niedrigsten Borden, ordnete die Bücher und packte sie in eine Holzkiste. Sie richtete sich auf und drehte sich nach dem Besucher um, der durch die glatte, bleiche Knochenmaske nur die Augen schimmern sah.
Kalt blickte von Izobia zu dem Besucher und fragte sich, warum er zu ihm kam. Besuche waren hier äußerst rar.
Das ist sicher der Junge, der gestern mit Tormon angekommen ist. Was kann er hier wollen?
Erstaunlicherweise sah der Bursche nicht besonders ängstlich aus. An die ständige Angst und Abscheu seiner Umgebung gewöhnt – was die Überbringer zu ihrem eigenen Schutz förderten –, empfand er diesen Mut als erfrischend, wenngleich ein wenig beunruhigend. Er lächelte hinter seiner Maske. »Du bist Scall, nicht wahr?«
»Er hat gesagt, er will mit dir über etwas sprechen.« Izobia hatte offenbar bemerkt, dass sie niemand mehr beachtete.
Kalt seufzte. »Danke, Izobia. Ich will dich nicht aufhalten. Sicher hast du heute eine Menge zu tun.«
»Allerdings habe ich das. Muss das Durcheinander aufräumen, das deine verdammte Kuh in meiner Vorratskammer angerichtet hat – wieder einmal. Gerade wenn man so beschäftigt ist. Du denkst mehr an das Tier als an mich. Ich weiß nicht, warum du ihr nicht einfach mein Zimmer gibst und mich draußen zum Vieh auf die Heide stellst.«
»Izobia kann besser schmollen als jeder andere«, sagte Kalt. »Das werde ich mir jetzt wochenlang anhören müssen. Komm, setz dich ans Feuer, Scall, und erzähle mir, was ich für dich tun kann.« Während sie sich dort niederließen, überlegte der Überbringer, dass er wenig tat, um in seinem Besucher Furcht zu wecken. Er war froh, dass sein Lehrer oben ihre Habe zusammenpackte. Grimm rügte ihn stets dafür, dass er so umgänglich war. Zwar sah er die Notwendigkeit ein, eine gewisse Ehrfurcht im einfachen Volk zu fördern, aber es lag nun einmal nicht in seinem Wesen, den Leuten so viel Angst zu machen.
Als sie es sich bequem gemacht hatten, hörte er mit wachsender Verwunderung zu, während der Junge von den Wunderdingen berichtete, die unter der Stadt Tiarond lagen.
Wie gern würde ich diese Höhle mit eigenen Augen sehen! Es ist unglaublich, dass sie seit Jahrhunderten dort liegt, verborgen und unentdeckt, und nicht einmal den Überbringern bekannt ist. Welche Schätze müssen dort versteckt sein!
Kalt beugte sich vor, als Scall sein schmutziges Päckchen auspackte und zwei seltsame Gegenstände herausholte: eine kleine Silberkugel von der Größe einer Walnuss und eine runde Scheibe von einem Fuß Durchmesser mit einem schmalen Goldrand. Nach einem Erlaubnis heischenden Blick nahm er die Scheibe behutsam in die Hand, und sogleich verdunkelte sich die Oberfläche, bis sie schwarz war. Helle grüne Linien erschienen darauf und formten ein Muster, das sich langsam vom einen Rand zum anderen bewegte. Kalt betrachtete die Reihe der Zeichen, die in Gruppen unterschiedlicher Länge angeordnet waren.
Das ist eine Schrift – das muss eine sein! Wenn Grimm das sieht!
»Äh … Herr?« Jetzt erst bemerkte der Überbringer, wie lange er die fremden Zeichen angestarrt hatte. Maßlos verwundert blickte er auf, um zu sehen, dass der Junge ihm den anderen Gegenstand hinhielt und dabei an dem Einschlagtuch nestelte, als wollte er mit der Kugel lieber nicht in Berührung kommen. »Ich meine, die solltest du dir auch ansehen«, sagte er. »Sie ist noch erstaunlicher als das andere Ding. Sie fängt an zu wirken, sobald du sie in die Hand nimmst, genau wie das Spiegelding.«
Kalt nahm sie in die geöffnete Hand, wie Scall ihm geraten hatte, und stieß hörbar die Luft aus, als sich darüber ein Bild zu drehen begann: eine Kugel, die so greifbar wirkte wie ein Kinderball, mit grünen, blauen, braunen und
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