Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
geöffnet. »Wirst du wohl damit aufhören! Du verlierst nur Zeit.« Ihm gelang ein verzerrtes Lächeln. »Du schaffst es. Ich habe volles Vertrauen zu dir.« Dann wurde sein Körper schlaff und schwer, und Kalt spürte seinen Geist entschwinden. Blind vor Tränen legte er seinen Lehrer nieder und glättete die blutige schwarze Robe. Es blieb keine Zeit zu trauen. Grimm hatte ihm seine letzten Anweisungen gegeben, und denen musste er gehorchen. Einen Moment lang schreckte er vor der Verantwortung zurück.
Wie soll mir das alleine gelingen? Wie kann ich Arcans Wachtrupp ausweichen, durch die Schleierwand kommen und dieses Gendival finden ohne Grimms Hilfe? Er ist immer da gewesen, ein starker Fels, aber ich habe nie begriffen, wie sehr ich ihn brauche, erst jetzt, da es zu spät ist.
Aber er glaubte an mich. Volles Vertrauen, hat er gesagt. Grimm, ich verspreche, ich werde dich nicht enttäuschen.
Scall hockte auf den Fersen, seine Augen waren finster und groß. Kalt sah, dass er am ganzen Leib zitterte. »Ich dachte, das bist du«, flüsterte Scall.
Kalt wollte ihn fragen, wer die grauenhafte Tat begangen hatte, aber Grimm hatte Recht gehabt – er durfte keine Zeit verlieren und auch nicht zartfühlend sein. Er sah Scall in die Augen und während er seinen Blick festhielt, berührte er den Jungen an der Stirn, versenkte sich in seinen Geist, ganz so wie bei dem Kind, dessen Hinübergehen er bewirkt hatte. Hier jedoch galt es nicht den Körper zu beherrschen, sondern den Willen. Scall das anzutun war grausam und erschreckend, und es tat ihm Leid, aber es musste sein, er kam nicht umhin. Der Kampf war kurz und garstig. Scall setzte sich mit verzweifelter Heftigkeit zur Wehr. Doch was sollte er gegen einen Mann mit den geübten Fähigkeiten und der Geisteskraft eines Überbringers ausrichten? Kalt rang seinen Willen nieder und verbannte ihn in eine Ecke seines Verstandes, während er selbst die Herrschaft darüber übernahm.
Kurz darauf wich das Leben aus Scalls Augen, wenngleich sie noch den Schatten einer furchtbaren Angst enthielten. Kalt lehnte sich an das Wasserfass und tat einen tiefen, bebenden Atemzug. »Das alles tut mir Leid, Scall«, sagte er. »Sattle rasch dein Pferd. Wir müssen fort.«
Kalt fand sein eigenes Reittier, einen grauen Schecken, neben Grimms Schimmel stehen. Beide waren gesattelt, die Bündel schon hinten festgemacht. Er stieg eilig auf, dann beugte er sich einer Eingebung folgend hinüber und band auch Grimms Pferd los. Gezwungen, allein zu gehen, und seiner selbst zutiefst unsicher, wollte er dringend etwas mitnehmen, das seinem Lehrer gehört hatte.
Er kehrte zu Scall zurück und fand ihn bereits auf der unruhigen Stute sitzen. »Folge mir und verhalte dich still«, befahl er, indem er seine ganze Willenskraft hineinlegte. Er hätte dem Jungen gern versprochen, dass er wohlbehalten zu seinen Freunden zurückkehren werde, aber Grimm hatte nicht mehr die Zeit gehabt, um ihm die Absichten des Schattenbundes hinsichtlich des Jungen anzuvertrauen.
Ich weiß nicht einmal, welche Pläne sie mit mir haben! Grimm hat gut reden, wenn er unbekümmert verlangt, sie sollen mich in ihren Kreis aufnehmen. Aber was, wenn sie das gar nicht wollen?
Kalt führte das dritte Pferd am Zügel, und so ritten sie zwischen den Reihen der angebundenen Tiere hindurch nach draußen. Als er an dem toten Grimm vorbeikam, meinte er es nicht ertragen zu können, ihn ein letztes Mal anzusehen. Es zerriss ihm das Herz – aber es erfüllte ihn auch mit kalter Entschlossenheit.
Ich werde dich nicht enttäuschen, Grimm – und ich werde dein Andenken im Herzen bewahren, so lange ich lebe.
Wenn Arcan auch keinen Grund sah, warum er Männer an die Bewachung der Ställe verschwenden sollte, so verhielt es sich mit dem Innenhof schon anders. Dieser war gut bewacht, ebenso das äußere Tor. Kalt dachte daran, wie Grimm in ein Trugbild eingehüllt unter den Augen von Arcans Wachen ihr Zimmer verlassen hatte. Er wusste, dass ihm die Fähigkeit seines Lehrers zur Sinnestäuschung fehlte, und doch würde er jetzt nicht nur sich selbst gegen Blicke abschirmen müssen, nämlich so lange, wie man brauchte, um den Hof zu überqueren und durch das Tor zu gelangen, sondern er würde das Wunder sogar für zwei Menschen und drei Pferde vollbringen müssen – und obendrein hatte er seine Gewalt über Scall aufrecht zu erhalten.
Grimm, wo immer du jetzt bist, ich hoffe, dass du über mich wachst.
Kalt löschte die Laterne und
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