Der Schattengaenger
abgegeben. Ein Redakteur vom Abendkurier hatte sich mit ihm angelegt und der Chef hatte Nerven gezeigt. Eine Todsünde, wie jeder hier wusste. Man musste die Leute auf Abstand halten. Kompetenz demonstrieren. Erfolge andeuten, bevor sie sich auch nur andeutungsweise am Horizont abzeichneten.
»Ich fasse zusammen«, hatte der Chef nach Berts Ausführungen gesagt und an den Fingern abgezählt: »Wir haben erstens keine DNA vom Stalker Imke Thalheims und stehen zweitens überhaupt, was seine Identität betrifft, noch ganz am Anfang. Wir können drittens nicht sagen, ob dieser Stalker mit dem Mörder Regina Bergerhausens identisch ist. Wir wissen viertens nicht einmal genau, ob der Tod der Putzfrau nicht ebenso gut Folge eines Totschlags oder sogar eines Unfalls gewesen sein kann. Fünftens haben uns die in der Nähe des Tatorts gesicherte Reifenspur und die Fußabdrücke kein Stück weitergebracht. Und sechstens«, hier blickte er drohend in die Runde, »sechstens stehen wir im Fall Thalheim vor einer möglichen Eskalation und sind nicht im Mindesten darauf vorbereitet.«
Er konnte das gut, die Dinge so darstellen, dass man wie der letzte Depp dastand. Es war seine ureigene Art, die Mitarbeiter zu motivieren. Zuckerbrot und Peitsche, bloß ohne Zuckerbrot.
Dabei liefen die Ermittlungen völlig normal. Seit dem Mord an Regina Bergerhausen waren knapp vier Wochen vergangen. Kaum ein Mordfall wurde in so kurzer Zeit aufgeklärt. Und es wurde auch von niemandem verlangt. Aber hier lagen die Dinge anders, weil mit Imke Thalheim eine Person des öffentlichen Interesses involviert war.
Offiziell hieß es, die Schriftstellerin habe sich zurückgezogen, um in aller Ruhe ihren neuen Roman zu schreiben. Imke Thalheims Agentin hatte diese Version, die mit Bert abgesprochen war, an die Medien weitergeleitet. Doch ein findiger Reporter hatte von dem Stalker Wind bekommen und den Zusammenhang hergestellt. Seitdem glaubte niemand mehr an eine Schreibklausur.
Wo bleibt die Stellungnahme der Autorin zum Tod ihrer Hausangestellten?
Ist etwas dran an der Stalking-Geschichte?
Den ersten Schlagzeilen würden weitere folgen. Und davor fürchtete der Chef sich wie der Teufel vorm Weihwasser.
»Selbst bekannte Autoren sind in den Medien nicht so präsent, dass man auf der Straße ihr Gesicht erkennt«, hatte Imke Thalheim beim letzten Gespräch zu Bert gesagt. »Aber vorsichtshalber benutze ich jetzt sogar einen falschen Namen.«
Sie hatte ihm den Namen einer ihrer Romanfiguren genannt, und Bert hatte sie schleunigst gebeten, sich einen neuen zuzulegen, denn es war offensichtlich, dass der Schattengänger ihre Bücher in- und auswendig kannte.
»Wie dumm von mir«, hatte sie betroffen gemurmelt, und Bert hatte begriffen, dass er ihr damit die letzte Möglichkeit genommen hatte, in der erzwungenen Isolation ein Stück ihrer Identität zu bewahren.
Nachdem der Chef die Versammlung aufgelöst hatte, war Bert in sein Büro gegangen und vor der Pinnwand stehen geblieben. Er hatte dort auch das Täterprofil angepinnt, das Isa entworfen hatte.
Extrem sensibel. Bindungslos. Flüchtet in Scheinwelten, hauptsächlich in die der Literatur. Unauffällig, dennoch charismatisch, ein Widerspruch, der ihm das Leben schwermacht. Projiziert sein Liebesbedürfnis auf eine Frau, der er im wirklichen Leben kaum begegnet wäre.
Genauso wenig wie ich, dachte Bert. Im normalen Leben hätte sie mich keines zweiten Blickes gewürdigt. Er las weiter, bevor die Sehnsucht nach dem Verbotenen ihn wieder packen konnte.
Intelligent. Partielle Hochbegabung. Arbeitet in einem typischen Männerberuf. Chauvinistisch. Kein Interesse an den Frauen, die er haben kann. Idealisiert Imke Thalheim. Äußerst gefährlich, falls sich herausstellen sollte, dass sie seinen Maßstäben nicht gerecht wird. Melancholisch. Zeitweise selbstmordgefährdet.
Bert begegnete Begriffen wieder, die auch auf die anderen Psychopathen zutrafen, mit denen er zu tun gehabt hatte. Sie alle waren sensibel, intelligent, begabt und gefährlich gewesen. Schwierige Gegner, an denen er beinah gescheitert wäre.
»Aber auch du hast einen Schwachpunkt«, sagte er leise. »Und den werde ich finden, verlass dich drauf.«
Der Hai war in allerbestem Zustand, davon hatte Manuel sich überzeugt, bevor er das Boot mit Vorräten bestückt und zur Abfahrt bereit gemacht hatte. Zuerst hatte er vorgehabt, niemanden einzuweihen und einfach abzuhauen. Bis der Boss entdeckt hätte, dass sein schwimmendes
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