Der Schattengaenger
Spaziergänge ausgedehnt. Inzwischen machte es ihr nichts mehr aus, fünf Stunden am Stück in Bewegung zu sein.
Allerdings half das Laufen ihr nicht mehr, die Sehnsucht nach zu Hause zu unterdrücken. Sie hatte sich sattgesehen an den Hügeln und dem ewigen Grün, den schwarz und weiß gefleckten Kühen, die sich malerisch in der Landschaft bewegten. Sie kannte sie allmählich zur Genüge, die blank geschrubbten Bauernhöfe, die im harten Sonnenlicht immer ein wenig melancholisch wirkten, die Madonnenwinkel an den Gabelungen der Wege und die tausendjährigen Linden und Eichen, auf die man hier so stolz war.
In einem Landgasthof machte sie Rast. Umgeben von schwatzenden, lachenden Ausflüglern, saß sie allein an einem Tisch auf der Gartenterrasse und sah einer Elster zu, die über die Wiese hüpfte. Nach dem Essen bestellte sie sich einen Kaffee.
Die Elster verschwand unter einer Baumgruppe, zwischen deren Stämmen man einen See erkennen konnte, der funkelte und blinkte, als hätte jemand Diamanten auf dem Wasser verstreut.
Die Kellnerin brachte den Kaffee. Imke hob die Tasse zum Mund, trank, stellte sie auf das kleine Silbertablett mit der Spitzenserviette zurück. Ihre Handgriffe waren mechanisch und hatten nichts mehr mit ihr zu tun. Ihr war danach, zu weinen, doch sie blockte das Gefühl ab, bevor es sie richtig erreichte.
Es ist genug, dachte sie. Und noch einmal: Es ist genug.
Sie stand auf und ging durch das schummrige, nach kaltem Rauch stinkende Lokal zur Toilette. Im Waschraum ließ sie sich Wasser über die Handgelenke laufen und schaute dabei in den Spiegel.
Grotesk. Was hatte dieser Irrsinnige aus ihr gemacht?
Langsam fasste sie sich ins Haar und zog die Perücke ab. Endlich liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie weinte und schluchzte, und es war ihr egal, ob jemand sie dabei überraschen würde.
Als keine Tränen mehr kamen, wusch sie sich das Gesicht, trocknete es mit Papier aus dem Spender und fuhr sich mit ihrem Kamm durchs Haar. Dann kehrte sie auf die Terrasse zurück, um zu bezahlen. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
Die Perücke ließ sie im Waschraum liegen.
Manuel hatte sich von den Kollegen verabschiedet. Sie hatten ihm auf die Schulter geklopft und ihm jede Menge ungebetener Wünsche und Ratschläge für die Reise mit auf den Weg gegeben. Noch glaubten sie, ihn in ein paar Wochen wiederzusehen. Es war ein irres Gefühl gewesen, als Einziger im Raum mehr zu wissen.
Nie wieder werdet ihr mich zu Gesicht bekommen, hatte Manuel gedacht und Richie die schmale, schwielige Jungenhand geschüttelt.
Ihm war feierlich zumute gewesen und er hätte das Gefühl gern mit jemandem geteilt. Stattdessen war er ins Büro hinübergeschlendert, hatte Alex spielerisch in die Seite geboxt und sich federnd weggeduckt, um der Reaktion auszuweichen. Ihr längst vergessenes Begrüßungsritual aus alten Zeiten. Er hatte eine Art von Rührung an Alex bemerkt und ihm versprochen, gut auf das Boot aufzupassen.
Nicht nur auf das Boot, hatte er gedacht und sich gewünscht, er könnte Alex von seinen Plänen erzählen, könnte irgendjemanden einweihen und müsste das Geheimnis nicht allein mit sich herumschleppen.
Der Abschied von Ellen war ihm überraschend schwergefallen. Sie hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen und er hatte sie an sich gezogen und eine Weile so gehalten. Verwirrt hatte sie sich von ihm losgemacht und ihn stirnrunzelnd betrachtet.
Ein Fehler, hatte er gedacht und sich geschworen, von nun an jedes Wort und jeden Handgriff zu bedenken.
Er wusste, dass er Ellen gefiel, trotz des Altersunterschieds zwischen ihnen, aber er hatte sich stets betont neutral verhalten, um sie nicht zu ermutigen. Er war sich immer sicher gewesen, dass die Liebe seines Lebens irgendwo auf ihn wartete. Und dass er sie erkennen würde, wenn er ihr begegnete. Und genau so war es dann ja auch passiert.
Ein letzter Rundgang durch seine Wohnung, dann war Manuel über den Hof zu seinem Wagen gegangen, hatte den Zündschlüssel ins Schloss gesteckt und war losgefahren, ohne sich noch einmal umzusehen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er sich frei gefühlt. Alle Fesseln waren von ihm abgefallen. Er würde die Dinge jetzt selbst in die Hand nehmen. Das hätte er schon viel früher tun sollen.
Nach den Blumen waren andere Geschenke gekommen. Eine Schachtel mit Jettes Lieblingspralinen. Ein silbernes Armband, passend zu ihrer Schlangenkette. Ein klatschmohnrotes Kleid in exakt ihrer Größe.
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