Der Schattengaenger
hören. Und es war ihr unangenehm, dass er so mühelos einen Schnittpunkt entdeckt hatte, an dem die erfundene Welt und die wirkliche sich berührten.
»Es gibt immer Neider«, flüchtete sie sich zu dem letzten Gedankengang zurück. »Wo wollen Sie da anfangen zu suchen?«
»Und Bewunderer«, sagte er. »Fans, die den Boden der Realität verloren haben. Die sich in Ihren Romanen besser auskennen als in ihrem eigenen Leben. Für die Sie … alles sind.«
Mich interessiert nur einer meiner Leser, dachte Imke überrascht. Ich will, dass er jedes meiner Bücher verschlingt. Jeden Satz aufsaugt. Ich möchte ihm meine Lieblingsstellen vorlesen und mit ihm darüber weinen und lachen.
Und dieser Leser bist du.
Sie wünschte, sie wäre richtig betrunken und nicht nur beschwipst. Dann hätte sie eine Erklärung für ihre sonderbare Stimmung aus dem Hut zaubern können.
»Wahrscheinlich«, sagte sie, »geht es wirklich nur um einen durchgeknallten Fan.«
»Nur?«
Er hatte recht. Es ging längst um mehr. Irgendwo da draußen war ein Mörder, der alle Hebel in Bewegung setzte, um sie zu finden. Imke griff nach dem Weinglas. Zum Teufel auch. Wenn das kein Grund war, sich zu betrinken, was dann?
Manuel hatte sich in seinen Wagen gesetzt und war losgefahren. Er hatte kein Ziel, musste einfach unterwegs sein. Ihre Abwesenheit machte ihn verrückt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Er wollte sie wiederhaben!
Allmählich verlor er den Kopf. Sein Alltag hatte keine feste Struktur mehr. Wie denn auch? Die Liebe zu Imke Thalheim hatte ihn stark gemacht, und jetzt stand er da, allein und verlassen. Ihr Verhalten demütigte ihn. Es stellte ihn bloß vor aller Welt.
Aber niemand weiß von dir und ihr.
Er verabscheute die rechthaberische Stimme in seinem Kopf. Sie war so überheblich. Und sie nervte! Manuel schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, um sie zum Schweigen zu bringen.
So ging es nicht weiter. Er musste etwas unternehmen. Die Frau, die ihm das antat, mit ihren eigenen Waffen schlagen. Es musste eine Möglichkeit geben, sie nach Hause zu locken.
Ein frühlingshafter Abend. Schöne Mädchen auf der Straße, jung und verführerisch. Eigentlich brauchte er nur die Hand auszustrecken. Er hatte wirklich eine unheilvolle Neigung, sich das Leben schwer zu machen. Ein hübsches, schlichtes Mädchen für ein hübsches, schlichtes Leben. Warum reichte ihm das nicht aus?
Weil es Imke Thalheim gab. Weil sie in sein Innerstes geschaut hatte.
Er entdeckte sich selbst in ihren Büchern. Er hatte keine Ahnung, wie sie das angestellt hatte, aber sie hatte ihn erkannt und beschrieben, immer und immer wieder. All die Liebesgeschichten in ihren Romanen waren Abwandlungen der großen, einzigen und einmaligen Liebesgeschichte zwischen ihm und ihr.
»Imke«, flüsterte er, und es überlief ihn heiß und kalt. Irgendwann merkte er, dass er nicht länger ziellos umherstreifte. Er war auf dem Weg zu ihrem Haus und er fuhr mörderisch schnell.
Tilo saß im Wintergarten, seine Arbeit auf dem Tisch ausgebreitet, und gab sich alle Mühe, sich zu verhalten wie immer. Er hatte sich einen Tee aufgebrüht und ging nun die letzten Sitzungsprotokolle durch, wie er das an den meisten Abenden tat.
Er arbeitete gern zu Hause, wenn die Mühle auch streng genommen noch nicht wirklich sein Zuhause war. Er fühlte sich wohl hier auf dem Land und in Imkes Gegenwart. Es war eine andere Welt und er hatte sie sich zu eigen gemacht.
Inzwischen jedoch war diese Welt bedroht, in einem Ausmaß, das er noch nicht abschätzen konnte. Alles hatte sich verändert. Der Stalker war zum Mörder geworden. Hier.
Tilo hatte sich mit ihm auseinandergesetzt. Er hatte versucht, ihn zu betrachten wie einen seiner Patienten, hatte versucht, ihn zu analysieren, so gut das bei jemandem möglich war, den man nie zu Gesicht bekommen hatte.
Sollte ich ihn jemals zwischen die Finger kriegen, dachte er, ich schlag ihn tot.
Wirklich alles hatte sich verändert, auch er selbst. Er konnte sich nicht erinnern, je einen solchen Hang zur Gewalttätigkeit verspürt zu haben.
Sie gehört MIR!
Das war mehr als eine bloße Warnung. Das war eine handfeste Drohung. Der Schattengänger hatte seinen Kreis erweitert. Das Objekt seiner Begierde war für ihn unerreichbar, also nahm er sich diejenigen vor, die Imke nahestanden.
Als Tilo sich klarmachte, dass es Jette war, mit der man Imke am tiefsten verwunden konnte, wusste er, dass er seine Arbeit für diesen Abend
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