Der Schattengaenger
ihn bloß verdeckt.
»Brav«, sagte Merle.
In diesem Augenblick klingelte es.
»Wenn ich es noch ein bisschen strecke«, sagte Merle mit leisem Bedauern, »reicht es vielleicht auch für drei.«
Ich ging zur Tür. Zum ersten Mal, seit ich Luke kannte, öffnete ich ihm mit einem Gefühl von Unbehagen. Zum ersten Mal wünschte ich, wir wären uns nie begegnet.
Kapitel 20
Während Jette und Luke draußen im Hof miteinander redeten, hatte Merle Brötchen aufgebacken und Käse und Obst auf den Tisch gestellt. Noch vor ein paar Wochen hätte sie Claudio angerufen und Pizza bestellt, aber Birkenweiler lag außerhalb des Bereichs, den Claudio mit seinem Service abdeckte.
Merle verdrängte den Gedanken an Claudio schnell. Sie arbeitete nicht mehr so oft für ihn, wie sie das früher getan hatte. Sie sah ihn überhaupt kaum noch. Es gab hier zu viel zu tun. Das alte Haus war ein Fass ohne Boden. Die Renovierungsarbeiten waren längst noch nicht abgeschlossen und im Stall stapelten sich die unausgepackten Kisten.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Wurde Zeit, dass die beiden endlich wieder Frieden schlossen und hereinkamen. Lange konnte sie das Rührei nicht mehr warm halten, ohne dass der ganze Geschmack verloren ging. Außerdem war ihr vor Hunger schwindlig. Sie hatte eine Ewigkeit für den Heimweg gebraucht.
Natürlich hatte sie kein Flickzeug bei sich gehabt. Also hatte sie ihr Fahrrad geschoben, den ganzen langen Weg bis Birkenweiler. Und immer wieder über die Schulter gespäht.
Doch da war nichts gewesen. Nur der ewig gleiche Tross der Autos, der sich Abend für Abend über die Landstraße wälzte. Ab und zu ein Hupen, lachende junge Männer, die Merle eine Kusshand zugeworfen oder einen bewundernden Pfiff geschickt hatten, hin und wieder ein halbherziger Versuch, sie anzumachen.
Trotzdem hatte Merle gespürt, dass sie belauert wurde, jede einzelne Sekunde.
Verdammter Spanner, dachte sie jetzt. Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß.
Sie war froh, dass Jette heute Abend nach Hause gekommen war. Sie hatte das Bedürfnis, mit ihr zu reden. Ihr von diesen seltsamen Wahrnehmungen zu berichten. Sie klopfte ans Fenster und zeigte einladend auf den gedeckten Tisch.
Luke winkte ihr zu, gab Jette einen Kuss auf die Wange und verschwand.
»Wir werden uns eine Weile nicht sehen«, sagte Jette, als sie die Küche betrat. Sie nahm sich ein Brötchen und knabberte daran herum.
»Sag das noch mal!«
»Wir werden … du hast es doch genau gehört.«
»Aber warum denn nur?«
»Ich kann ihm nicht vertrauen, Merle. Ich schaff’s einfach nicht.«
»Weil er den Job bei deiner Mutter angenommen hat?« Merle hatte das Rührei auf zwei Teller verteilt und machte sich nun ausgehungert über ihre Portion her. »Entschuldige«, nuschelte sie. »Reiner Selbsterhaltungstrieb. Aber ich hör dir zu.«
Jette stocherte abwesend auf ihrem Teller herum. Sie zerdrückte ein Tomatenstückchen nach dem andern mit der Gabel und schichtete die Pilze gedankenverloren zu einem kleinen Turm. Als sie endlich antwortete, war Merle beinah schon satt.
»Dieser Job, der passt so schrecklich gut ins Bild. Weißt du, manchmal frag ich mich, ob Luke überhaupt wirklich ist. Vielleicht hab ich ihn mir ja bloß eingebildet. Ich habe mir ein Bild von ihm zusammengesetzt aus dem wenigen, das er mir über sich erzählt hat. Wie soll ich ihn denn auch kennenlernen? Richtig, meine ich. Nie hat er Zeit. Immer ist er auf Achse. Und dann …«
»Was - dann?«
»Es ist doch seltsam, Merle, dass exakt in dem Moment, in dem meine Mutter von einem Stalker belästigt wird …«
»Das ist Schwachsinn, Jette!«
»… dass genau in diesem Augenblick Luke in mein Leben tritt. Er ist Assistent des Maklers, der uns den Bauernhof vermittelt. Angeblich verliebt er sich in mich. Überrennt all meine Bedenken. Und gerade als ich anfange, meinen Schutzwall Stück für Stück abzutragen, als ich anfange, wir zu denken statt ich, da laufe ich ihm im Haus meiner Mutter in die Arme …«
»Was sagt Luke denn dazu?«
»Zufall, was sonst. Er hat die Anzeige meiner Mutter gelesen und sich beworben und nicht gewusst, dass er mit der Tochter der Schriftstellerin … Gott, das klingt wie in einem Groschenroman.«
»Du glaubst ihm nicht?«
Jette schaute von ihrem Teller auf. Es schien sie beträchtliche Überwindung zu kosten, Merles Frage zu beantworten.
»Für ein, zwei Sekunden, Merle … hatte ich … Angst vor ihm.«
Merle spürte das Erschrecken bis in
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