Der Schattenjäger (German Edition)
endete die Spur. Sie lag mitten im Vergnügungsviertel der Lower East Side, und dort interessierte sich offenbar niemand für Politik, denn die Leute wussten nicht einmal, was die IMW war.
Wolf gab die Suche nach Sam Schlosky auf und eilte mit den beiden Lehrlingen nordwärts in die Gegend zwischen Astral Place und Tompkins Square, die mehrheitlich von Iren und Deutschen bewohnt wurde. Das Viertel war früher einmal das Zentrum der New Yorker High Society gewesen. Hier wohnte die Hälfte aller New Yorker Adligen und stand auch der frühere Familiensitz der Astrals. Mittlerweile hatten sich aber alle reichen New Yorker um den Central Park herum niedergelassen. Ihre einst gepflegten, großen Kolonialbauten hatte man in Mietshäuser umgewandelt, wo zwielichtiges Gesindel ein- und auszog und ansonsten in Trinkhallen und an Straßenecken herumlungerte.
Sascha kannte dieses Viertel nur vom Hörensagen. Und obwohl die Leute, die hier wohnten, nicht ärmer waren als diejenigen in der Hester Street, sah man doch auf sie herab. Wer hier gestrandet war, hatte keine Wurzeln und führte ein rastloses, unruhiges Leben, abgelöst von der jüdischen Gemeinde und umgeben von irischen, deutschen und tschechischen Einwanderern, die, so vermutete Sascha, ohne Perspektive waren. Saschas Großvater und Meyer Minsky hatten gewiss nicht denselben Begriff von einem »echten Juden«, aber darin wären sie sofort einig gewesen, dass man einen solchen bestimmt nicht in diesem Viertel finden würde.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Lily keuchend. Sie musste geradezu rennen, um mit Wolfs langen Schritten mithalten zu können.
»Wir wollen Naftali Ashers Witwe besuchen.«
Sascha war verblüfft – und auch ein bisschen verstört –, dass Naftali und Rivka Asher in solch einer Gegend gewohnt hatten. Gellman hatte Rivka doch als bescheidene und stille Tochter eines Rabbiners beschrieben. Beim Anblick der Frauen und Männer, die in den Bierhallen und an den Straßenecken herumlungerten, fiel es Sascha schwer, sich vorzustellen, wie ein auch nur halbwegs anständiger Ehemann seine zarte Gattin in diesem schäbigen Viertel einquartieren konnte.
Natürlich taten die Leute in New York eben auch Merkwürdiges. Und Naftali Asher war offenbar ein merkwürdiger und schwieriger Mensch gewesen. Vielleicht hatte er gerade hier, wo man einander nicht kannte, Trost gefunden.
An der U-Bahn-Haltestelle Astral Square riss der durchdringende Ruf eines Zeitungsjungen Sascha aus seinen Gedanken. Hatte er in den lauten Rufen einen bekannten Namen gehört oder sich das nur eingebildet? Er suchte mit den Augen in der Menge und erblickte einen zerlumpten Jungen, der die Abendausgabe der
Daily Sun
über dem Kopf schwenkte.
»Mord im Hippodrome!«, rief der Junge erneut. »Lesen Sie alles über den Fall!«
Wolf hielt an und schaute den Zeitungsjungen so eindringlich an, dass dieser den Blick von Wolfs grauen Augen auch quer über den Bürgersteig spüren musste.
»Mord im Hippodrome!«, wiederholte der Zeitungsjunge. »Dreiecksgeschichte im Varietémilieu endet tödlich! Lesen Sie alles!«
Wolf ging zu dem Jungen und kaufte ihm eine Zeitung ab. Alle drei zogen sich in eine ruhige Seitenstraße zurück, wo sie die Schlagzeilen und die Kurzfassung des Artikels überflogen, um den Schaden abzuschätzen. Was in der Zeitung stand, bereitete Sascha Magenschmerzen, und Wolf wurde bleich vor Zorn.
Eine blutige Spur von Begierde und Rache, so lautete die Schlagzeile. Aber es kam noch schlimmer.
Polizeiliche Ermittler trafen heute Nachmittag am Tatort ein und entdeckten eine Spur der Begierde und Rache, die vom gleißenden Licht der Bowery in die schmutzigen Schtetl des alten Russlands führt.
Sascha wunderte sich schon gar nicht mehr, dass die Presse schon über Fotografien von Kid Klezmer und dem Klezmerkönig verfügte. Eine Aufnahme zeigte The Kid in einem Nachtklub, gemeinsam an einem Tisch mit Meyer Minsky und Dopey Benny. Die Bildunterschrift lautete Der verschmähte Liebhaber und seine Gangsterfreunde . Das war schon dreist, aber was unter der Fotografie des Klezmerkönigs stand, war noch schlimmer: Ist Naftali Asher einen teuflischen Pakt eingegangen?
Das Schlimmste aber kam zum Schluss. Das Bild war eine verschwommene Aufnahme von einer traditionellen jüdischen Hochzeitsgesellschaft. Es war so unscharf und die Braut so weit von der Kamera entfernt, dass Sascha nicht mehr darüber sagen konnte, als dass die Braut jung und scheu aussah. Der Bräutigam
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