Der Schattenprinz
Schattenreich«, antwortete der Prinz.
»Warum?«, wollte sie wissen.
»Weil ich dort wohne«, erwiderte mein Freund,
»Und er, wohnt er auch dort?«, fragte sie weiter.
»Er ist mein Freund«, sagte der Prinz.
»Was ist das, ein Freund?«, wollte sie nun wissen.
»Ein Freund ist jeder, der ein Freund ist.«
»Was ist ein Freund?«
»Ein Freund ist jemand, der überallhin mitgeht.«
»Das verstehe ich nicht. Was ist ein Freund?«
»Ein Freund ist jemand, mit dem du streiten kannst und der nach dem Streit nicht böse ist.«
»Ich verstehe es immer noch nicht. Was ist ein Freund?«
»Ein Freund ist jemand, der dir hilft, wenn du Hilfe brauchst.«
»Wird er dir helfen?«
»Natürlich, er ist mein Freund.«
»Ist er klug?«
»Sicher.«
»Wenn er so klug ist, warum wollte er dann durch das große oder das kleine Maul?«
»Das war nur Spaß.«
»Gut, dass das nur Spaß war. Denn alle, die den Weg durch ein Maul nehmen, werden sofort zu Staub. Siehst du alle diese Staubberge? So sind die geendet, die sich für den Weg durch ein Maul entschieden haben.«
»Wir haben richtig gewählt.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Du kannst weitergehen. Aber er muss hier bleiben. Ich möchte auch einen Freund haben.«
»Das ist unmöglich. Er muss mitkommen und mir helfen.«
»Es tut mir Leid. Dein Freund ist jetzt mein Freund und wird hier bleiben.«
»Gibt es denn keine Möglichkeit?«
»Keine einzige.«
»Nur eine einzige, bitte!«
»Gut. Ich stelle deinem Freund ein Rätsel. Wenn er die Lösung findet, könnt ihr gemeinsam weitergehen.«
»Einverstanden«, sagte ich.
»Mal sehen«, lächelte die Frau. »Ich stelle dir nur eine Frage und die ist das allerschwerste Rätsel. Bis jetzt hat noch niemand diese Frage richtig beantwortet. Und du wirst es auch nicht schaffen.«
»Ich kann dir auch ein Rätsel stellen«, rief ich aufgeregt. »Was ist das:
In einem Haus aus Holz
lebt ein Meister aus Stein.
Er kann sinken, aber nie versinken.
Er kann brennen, aber nie verbrennen.
Er kann schreiben, aber er kann nicht lesen.
Man kann ihn zugrunde richten,
aber nie seine Werke vernichten.«
»Ich weiß es nicht. Alles, was ich darüber weiß, ist, dass du die Antwort weißt«, lächelte die Frau. »Jetzt musst du mein Rätsel beantworten. Also: Welches unserer Gesichter ist alt?«, fragte das alte Gesicht. »Und welches unserer Gesichter ist jung?«, fragte das junge Gesicht.
Ich überlegte, aber mir fiel die richtige Antwort nicht ein. Doch dann hatte ich eine Idee. Vielleicht trug die Frau Masken, wie die Schauspieler im Theater. Vielleicht war unter der alten Maske ein junges Gesicht und unter der jungen Maske ein altes. Das könnte die richtige Antwort sein, dachte ich. »Dein altes Gesicht ist jung«, sagte ich, »und dein junges Gesicht ist alt.«
»Das Rätsel ist gelöst«, sagten die beiden Gesichter gleichzeitig. Mit diesen Worten nahm die Frau ihre Masken von den Gesichtern. Und ich sah, dass dort, wo die alte Maske gewesen war, ein sehr junges und wunderschönes Gesicht war und dort, wo die junge Maske gewesen war, ein ganz altes Gesicht zum Vorschein kam.
»Ich hätte niemals gedacht, dass du die Lösung finden wirst. Jetzt ist der Weg zum Schattenreich offen.«
»Und wo ist eigentlich dieses Schattenreich?«, fragte ich ein wenig nervös.
»Hinter mir«, erwiderte die Frau und trat zur Seite, um den Weg freizugeben.
Der Prinz ging sofort an ihr vorbei. Aber als ich das auch tun wollte, hielt sie mich mit strenger Stimme zurück.
»Halt! Du bleibst hier!«
»Warum muss ich hier bleiben?«, fragte ich verwundert. »Ich habe doch das Rätsel gelöst.«
»Trotzdem«, sagte sie.
»Ich verstehe das nicht«, meinte ich traurig.
»Es gibt nichts zu verstehen«, sagte die Frau mit den zwei Gesichtern. »Nur Schatten darf ich ins Schattenreich lassen. Du bist kein Schatten, also musst du hier bleiben.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte ich verstört.
»Nein.« Die Frau war nun wieder sehr ernst. »Nein, nein und noch mal nein. Es gibt keine andere Möglichkeit, außer einer. Wenn du freiwillig zustimmst, dass ich dich in einen Schatten verzaubere, dann kannst du ins Schattenreich gehen. Aber nur für kurze Zeit.«
»Wie kurz?«, wollte ich wissen.
»Du kannst so lange im Schattenreich bleiben, bis die blaue Eule zu singen beginnt. Vergiss das auf keinen Fall. Wenn du die blaue Eule mit ihrer vollen Stimme singen hörst, musst du das Schattenreich verlassen.«
»Gar
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