Der Schattenprinz
kein Problem«, meldete sich der Prinz. »Die blaue Eule singt sowieso nur einmal in hunderttausend Jahren. Das hat mir meine Oma erzählt.«
»Das ist wahr«, bestätigte die Frau. »Aber es ist hunderttausend Jahre her, seitdem sie das letzte Mal gesungen hat. Es wundert mich, dass ich die Ziehharmonika noch nicht spielen höre. Wenn sie zu spielen beginnt, fängt auch die blaue Eule an zu singen. Also beeilt euch«, sagte die Frau freundlich. »Ihr habt nicht viel Zeit.«
»Ich bin einverstanden«, sagte ich. »Mache aus mir einen Schatten.«
»Das ist nicht so einfach«, sagte sie, »solange du deine Schuhe trägst.«
»Was soll ich tun?«
»Lass die Schuhe hier.«
»Aber sie sind neu. Meine Mutter hat sie mir erst heute gekauft.«
»Trotzdem. Entweder du lässt die Schuhe hier oder du wirst nie ins Schattenreich kommen.«
»Und wo werde ich sie wieder finden?«
»Du wirst sie nicht finden. Jemand anderes wird sie für dich finden.«
Ich zog also die Schuhe aus.
Die Frau setzte ihre Masken wieder auf. »Schade, dass du gehst«, sagte sie. »Ich würde so gern auch einen Freund haben.«
»Ich muss Jolas Sachen wieder finden.«
»Wir müssen uns beeilen«, meldete sich der Prinz.
»Warte noch einen Moment«, sagte ich. Ich öffnete meine Schultasche, holte mein Buch heraus und gab es der Frau mit den zwei Gesichtern. »Lies diese Geschichte, wenn du dich alleine fühlst. Das ist ein schönes Buch. Es handelt von einem Träumesammler. Bis du einen Freund gefunden hast, kann das Buch dein Freund sein.«
Die Frau mit den zwei Gesichtern war überrascht, aber dann sah ich, wie ihre beiden Gesichter lachten.
»Danke!«, sagte sie. »Du bist wirklich ein Freund. Jetzt werde ich dir beweisen, dass ich auch deine Freundin bin. Ich werde dich in einen Schatten verzaubern. Aber dieser Zauber hält nur so lange an, bis du zu sprechen anfängst. Wenn du auch nur ein einziges Wort sagst, dann bist du wieder ein ganz normaler Junge.«
Dann murmelte sie eine Zauberformel. Ich verstand zwar nichts, aber ich spürte, dass ich plötzlich ein Schatten war.
Der Prinz begann zu laufen und ich folgte ihm durch das Schattenreich auf dem Weg in die Schattenstadt, wo die Schatten leben.
Als Schatten im Schattenreich
Der Prinz lief sehr schnell, ohne sich umzusehen, und ich dachte schon, er hätte mich vergessen.
Ich folgte ihm und hoffte, dass er Acht geben würde. Er lief eine Straße entlang, die sich mit vielen Kurven durch die Landschaft schlängelte. Um uns herum strahlte alles in einem tiefen Dunkelblau.
Am Anfang war alles in Ordnung, denn die Gegend war flach. Aber später wurde es schwieriger. Mir fiel auf, dass viele spitze Steine auf dem Weg lagen. Ich war ganz sicher, dass ich mir wehtun würde. Aber mir passierte nichts. Wie ein Schatten schwebte ich über die Steine, ohne mich zu verletzen. Es war ganz merkwürdig. Ich suchte mir die allerspitzesten Steine aus und schwebte einfach darüber weg.
Dann änderte sich die Gegend plötzlich. Der Prinz lief auf einen schmalen Weg zwischen riesigen Felsen zu. Das kam mir sehr gefährlich vor, weil er auch nicht langsamer wurde und ich ihn nicht verlieren durfte. Große Felsen waren noch gefährlicher als kleine, spitze Steine.
Ich muss gut aufpassen, dass ich mir nicht den Kopf anschlage, dachte ich.
Aber obwohl ich wirklich gut aufpasste, schlug ich doch ein paar Mal gegen die Felsen. Auch jetzt passierte mir nichts. Ich schwebte über die Felsen oder an ihnen vorbei und war glücklich, dass ich ein Schatten war.
Plötzlich blieb der Prinz stehen und setzte sich auf einen Stein. Ich sah, dass er schon ein bisschen müde war. Der Prinz sagte kein Wort und ich bemühte mich auch ganz still zu sein, obwohl ich sehr gern mit ihm über die Steine und die Felsen gesprochen hätte. Ich erinnerte mich gut, was die Frau mit den zwei Gesichtern gesagt hatte. Falls ich redete, würde ich sofort wieder ein Junge werden. Das wollte ich aber nicht. Mir gefiel es sehr gut, ein Schatten zu sein. So saß ich neben dem Prinzen und wartete, was er als Nächstes tun würde.
»Pass auf«, sagte er zu mir. »Wir werden bald die Schattenstadt erreichen, in der ich lebe. Du weißt sehr gut, dass du kein Wort sagen darfst, wenn wir dort sind. Die Schatten im Schattenreich schlafen meistens. Sie sind sehr selten wach. Meine Großmutter erzählte mir, wenn ein Menschenkind ins Schattenreich kommt, dann werden alle Schatten sofort wach, um dieses fremde Wesen aus dem
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