Der Schattensucher (German Edition)
nicht, weil er ein Ziel erreichen wollte. Dabei hatte er ein Ziel.
Die »Kunst der Gegenwart« hätte er diese Wahrnehmung früher vielleicht genannt. Doch jetzt kam er gar nicht dazu, sich solche Gedanken zu machen. Er praktizierte diese Kunst einfach und bemühte sich nicht, ihr einen Namen zu geben. Er war sich noch nicht einmal darüber bewusst, dass er sie praktizierte. Sein Vater hatte früher gesagt: »Wir reden meist nur über die verlorenen Dinge. Über das Vorhandene gibt es nichts mehr zu sagen.«
Und so ging er durch die Einkaufsstraße, schaute, fühlte, schmeckte, stolperte einmal und wurde mehrmals angerempelt. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er das Ende erreichte und eine ihm wohlvertraute Stimme hörte: »Rotschopf!«
»Ach, du schon wieder!«
»Was heißt hier schon wieder? Du warst lange nicht da.«
»Tatsächlich?«, sagte Alvin und sah dem Jungen zu, wie er vom Dach stieg.
»Was bist du heute so gut gelaunt?«, fragte der Junge.
»Es ist ein schöner Tag. Und ich habe frei.«
»Was ist das: frei haben?«
»Es ist, wenn du nicht arbeiten musst.«
»Wenn man es so sieht«, sagte der Junge, »habe ich immer frei. Ich muss nicht arbeiten, ich tue es aus Spaß.« Im nächsten Moment sah Alvin in seiner Hand einen Apfel, in den der Junge hineinbiss.
»Das nennst du Arbeit?«, fragte er. »Die anderen um ihren Lohn bringen?«
»Aber hallo! Es kostet viel Mühe, das zu lernen.«
»Und sonst hast du nie etwas gelernt?«
»Natürlich«, protestierte der Junge. »Holz hacken, Äcker pflügen, Unkraut jäten, Boden schrubben.«
»Aber nichts davon tust du gern.«
»Nichts davon war freiwillig.«
Sie zogen durch die Gassen und achteten nicht darauf, wohin sie gingen. Inzwischen hatten sie die belebten Straßen verlassen. Die Häuser hier waren eintönig und unbedeutend. Alvins Daseinsfreude hielt dennoch an.
»Sag mal, willst du eigentlich noch irgendwohin?«, fragte ihn der Junge.
»Ja. Aber das hat Zeit. Ich werde morgen meine Freunde besuchen, die ich lange nicht gesehen habe.«
»Meine Freunde sind überall. Ich brauche sie nicht zu besuchen.«
»Würde es dir nicht gefallen, meine Freunde einmal kennenzulernen?«
»Wozu?«
»Sie sind nett und gastfreundlich. Du würdest mit Sicherheit ein Stück Rosinenbrot mit einem Becher Milch bekommen. Wahrscheinlich hätten sie auch etwas Honig für dich.«
»Rosinenbrot. Ja, das klingt nicht schlecht. Und wo schläfst du heute Nacht?«
»Mal sehen«, antwortete Alvin, der sich bisher keine Gedanken darüber gemacht hatte. In seinem Kopf war der grobe Plan längst fertig. Deshalb dachte er immer nur über den nächsten Schritt nach.
»Ich könnte dir hundert Orte zeigen, wo du schlafen könntest. Wie hättest du’s gerne? Warm und kuschelig, großzügig, mit Aussicht, mit Versorgung?«
»Mit Aussicht wäre schön«, antwortete Alvin. »Wirst du dabei sein?«
»Von mir aus. Dann muss ich uns aber noch etwas zu essen besorgen.«
»Wie wäre es, wenn wir einfach etwas kaufen würden?«
»In Ordnung. Dann muss ich nur noch das Geld dafür stehlen.«
Zum ersten Mal schaute Alvin ihn ernst an. »Ich habe noch einen Makel in der Tasche. Ich will nicht, dass du eines Tages im Gefängnis landest.«
41. Kapitel
Briangard, Jahr 304 nach Stadtgründung
In drei Wochen würde die Hinrichtung sein. Tod durch Enthauptung sei das Übliche hier, hatte man Levin gesagt. Gut , dachte er, dann ist die Sache in einem Augenblick vorbei. Man merkt es wohl nicht einmal. Besser, als sich noch ewig an einem albernen Strick zu quälen und dabei den Leuten ein paar verdrehte Augen zu präsentieren.
Das waren vielleicht die letzten zynischen Gedanken, die Levin in den Sinn kamen. Als er in dem nass-dunklen Gemäuer angekommen war, hatte er endgültig jeglichen Scharfsinn verloren. Von nun an verbrachte er die Tage damit, wehmütige Gedanken zu vertreiben oder die Vergangenheit aufleben zu lassen oder Stunden um Stunden zu schlafen. Letzteres brachte ihn dem Ende der drei Wochen am schnellsten näher.
Er hatte eine Einzelzelle, so groß wie ein Zimmer. Ein Gitter trennte ihn vom Gang. Von dort kam das Fackellicht, das tagaus, tagein vor sich hin flackerte. Irgendwann verlor Levin das Gefühl für die Zeit. Nur an den Mahlzeiten konnte er sich orientieren.
Der Kerker befand sich unter der Kaserne. Man musste eine steile Treppe hinter einer Eisentür hinunter und gelangte dann in den Gang, an den sich sechs Zellen anschlossen. Am Ende des
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