Der Schattensucher (German Edition)
Ganges ging es eine weitere Treppe hinab, wohl in den zweiten Trakt. Das Verlies war nicht gerade überfüllt. Außer ihm befand sich auf seinem Stockwerk nur ein weiterer Gefangener. Er war in der ersten Zelle und saß, wie Levin mitbekam, immer ganz hinten auf dem Boden. Levin wusste nicht einmal, ob er überhaupt reden konnte.
Fast jede Stunde tappte ein Wächter vorbei, warf einen routinierten Blick in die Zelle und ging weiter ins untere Stockwerk. Levin hatte keine Lust, sich mit den Wachen zu unterhalten. Am liebsten war es ihm, wenn er überhaupt niemanden sah und hörte.
Seine Gedanken waren ihm laut genug, auch die Stimmen, die aus seiner Erinnerung drangen. »Du hast nie Verantwortung übernommen«, sagte Elena immerzu. »Wer etwas sein möchte, was er nicht ist, wird umso härter bestraft«, kam es von Jason. »Ihn erwartet die Todesstrafe«, sagte Nadal mit fiesem Grinsen. Sogar Thekla redete aus seinem Gedächtnis, sie sagte: »Wenn Ihr tot seid, wird sich niemand Eurer erinnern.«
Die häufigsten Worte, die durch sein Gedächtnis geisterten, kamen aber von Thanos. Wie unzerbrechliche Gefäße tauchten die Sätze im selben Wortlaut immer wieder auf: »Du machst dir dein eigenes Schauspiel«, »Die wirklich wichtigen Geheimnisse liegen doch im Offensichtlichen«, »Du verachtest das Licht, obwohl es den größten Schutz bietet«. Am meisten beschäftigten ihn die drei letzten Worte, die er von Thanos gehört hatte: »Er muss sterben.« Das hatte er mit einer solchen Sachlichkeit gesagt, dass Levin erschrocken war. Hatte er da wirklich Thanos gehört? Wenn er doch wenigstens sein Gesicht dabei gesehen hätte. Thanos hatte es im Schatten verborgen. Nur für einen kleinen Moment, als Thanos sich erhoben hatte und rasch zum Hinterausgang ging, hatte sich ein Lichtschein auf sein Gesicht gestohlen. Und da glaubte Levin gesehen zu haben, wie seine Lippen bebten und sich gegen den Schmerz wehrten, der aus ihm herausbrechen wollte.
Je mehr er darüber nachdachte und sich die Situation vor Augen malte, umso erstaunter war Levin über sich selbst. Hatte er nicht kurz davor entschieden, dass er in Thanos einen ganz gewöhnlichen und eigentlich verabscheuungswürdigen alten Mann sehen wollte? Warum kümmerte ihn dann Thanos’ Reaktion so sehr?
Du hast dich von einem Menschen abhängig gemacht , sagte er sich. Und jetzt kriegst du die Folgen davon zu spüren. Es beschämte ihn, dass es Thanos so leicht mit ihm gehabt hatte. Ein bisschen Vertrauen hatte er über Levin ausgeschüttet, ein paar beeindruckende Dinge hatte er ihm gezeigt und schon wäre er fast bereit gewesen, ihm in die Falle zu gehen. Ja, sicher, da war offenbar ein kindlicher Mangel in ihm, den Thanos entdeckt hatte. Das konnte er nicht bestreiten.
Aber war das der Grund, weshalb er nun hier saß? War es nicht eigentlich so gewesen, dass er sich rechtzeitig wieder unter Kontrolle gebracht hatte und dann erst festgenommen worden war? Sein Eigensinn hatte ihn hierher gebracht, nicht sein übermäßiges Zutrauen. Das beruhigte ihn. So hast du dein Leben begonnen, so wirst du es nun auch beenden. Nimm es mit Stolz , redete er sich ein.
Und mit eben jenem Stolz legte er sich auf die Pritsche und schlief ein. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass sie ihn in seinen Träumen wieder aufsuchten. Und dort redeten sie nicht nur, sondern malten ihm die schlimmsten Bilder.
Einmal sah er seiner eigenen Hinrichtung zu. Es war alles andere als schmerzlos. Das Gefühl, dabei zu sein, wenn es ihn nicht mehr gab, durchzog ihn wie ein Eiswind.
In einer anderen Nacht begegnete er seinem Pflegevater. Mit Ketten hatte er Levin an den Waldboden gefesselt und ließ ihn Bäume fällen. Immer wenn Levin sich umdrehte, stand er übergroß da und schaute ihn selbstgefällig an. »Hättest eben nicht von mir abhauen dürfen«, sagte der Vater, und wenn Levin sich nicht rechtzeitig wieder an die Arbeit machte, gab es einen Hieb. Vorne sah er das Mädchen, seine Pflegeschwester, zwischen den Bäumen umherspringen. Wenn Levins Baum fiel, wich sie erschrocken aus. Keiner traf sie, aber jedes Mal hatte er eine unbeschreibliche Angst. Einen Baum nach dem anderen fällte er. Doch da waren noch so unendlich viele.
Eines Tages träumte er beim Mittagsschlaf. Es war in der dritten und quälendsten Woche. Er schlief höchst unruhig. Hinter ihm rannte ein borstiger Wolfshund her, an dessen Lefzen das Blut herabtropfte. Das Tier schien nicht im Geringsten zu ermüden, während Levin
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