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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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sein und bald schon war das Schwarz so finster, dass das Finstere zu einem abscheulichen Gesicht wurde. Eine faulige, modrige, brennende Fratze tat sich auf, sie bestand aus nichts als Dunkel. Ein Schlund öffnete sich vor ihm und was darin zu sehen war, war ein noch viel tieferes Schwarz als alles davor. In ihm waren in weiter Ferne jene Menschen versunken, denen er in die sterbenden Augen geblickt hatte. Sie wurden immer kleiner, doch der Schlund näherte sich ihm, selbst wenn er glaubte, dass es nicht näher ging.
    Nein, sein Kampf war nicht gegen das Schwarz. Er würde seine Augen nicht davor verschließen. Er schaute mitten hinein und ließ das Dunkel Dunkel sein.
    Zugleich aber öffnete er seine Ohren für die Klänge in seinem Innern. Sanft und unscheinbar traten sie hervor. Sie kamen näher, wurden lauter und bestimmter. Bald waren es keine Klänge mehr, sondern Stimmen, deutliche Stimmen. Das monströse Schwarz vor seinen Augen konnte sie kein bisschen berühren. Das war das Geheimnis, sagte er sich. Sehen da, hören dort. Und er hörte näher hin. Da war der Vater, da war Elena, da waren seine Freunde. Sie redeten und hörten nicht auf zu reden. Zuerst waren es Worte der Vergangenheit, doch schon bald waren es Worte der Zukunft. Von einer prächtigen Zukunft erzählten sie.
    Aber der Schlund wurde größer und begann sich um ihn zu schließen. Die Tiefe der Dunkelheit war nun nicht mehr zu ermessen.
    Weiterhören! , befahl er sich.
    Er hörte Singen und Lachen, weise und leichte Worte, alles vermischt zu einer rauschenden Sinfonie. Er folgte ihr.
    Aber der Schlund. Er schloss sich um ihn. Jetzt berührte er ihn schon. Das Schwarz umfing ihn.
    Wo waren die Stimmen? Sie waren in einem Augenblick verstummt. Wo war die Sinfonie? Sie war noch nicht zu Ende gewesen.
    Der Schlund verengte sich um ihn und drückte und presste ihn zusammen. Nicht wegschauen! , sagte er sich.
    Da! Endlich! Eine Stimme, die allen anderen überlegen war. Nicht lauter, aber bestimmter: »Alvin!«
    Das Pressen der Finsternis nahm zu. Er konnte nicht antworten. Er wurde immer kleiner und unbedeutender.
    »Vertraust du mir?« Die Stimme verschwand sogleich. Nichts als die Frage blieb.
    Schau hin! , sagte er sich. Jetzt war das Dunkel so dunkel geworden, hatte ihn so klein gepresst, dass er kurz davor war, darin zu verschwinden. Und in seinem kaum mehr vorhandenen Dasein ertönte auf einmal aus seinem Inneren eine Stimme, seine Stimme, und sagte: »Ja.«
    Am Morgen erwachte Alvin und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Noch ehe er sich erhoben hatte, stürmte der Bauer herein, stieß die furchtbarsten Schimpfworte aus und sagte schließlich: »Das hat man nun davon, dass man seine Gutmütigkeit an einen Dahergelaufenen verschwendet! Lässt sich versorgen und legt sich im Stroh auf die faule Haut. Aber nicht mit mir! Ihr habt meine Gastfreundschaft lange genug ausgenutzt. Packt Eure Sachen und schert Euch fort oder ich hole die Stadtwache!«
    »Ist gut«, sagte Alvin mit einem unübertrefflichen Strahlen auf dem Gesicht. »Einen wunderschönen guten Morgen übrigens!«
    Wenig später zog er mit seinem Beutel über der Schulter die Straße zur Stadt hinunter, wo sich schon bald das Leben regen würde. Sein Weg führte ihn zur Einkaufsstraße.
    Noch waren die Händler dabei, ihre Waren auszubreiten. Alvin zog es heute besonders zum Stand mit den Honigtöpfen. Er wusste, dass er sich nichts leisten konnte, aber wenigstens kosten wollte er. Genüsslich leckte er den Finger ab, der Geschmack war so intensiv, als habe er einen ganzen Topf verspeist.
    Ja, es war schön, hier zu sein. In diesem Moment gab es keinen besseren Ort in der Welt. Auch wenn der Himmel wolkenverhangen war, so hatte Alvin doch den Eindruck, als schicke die Sonne ihr hellstes Licht an diesen Ort und ließ alles so leuchtend erscheinen, wie er es nie erlebt hatte. War der Boden unter ihm Wirklichkeit? Berührte er ihn denn? Er fühlte es und doch schien es eine neue Empfindung in ihm zu geben, die alles andere überlagerte. Es war eine tiefe Ruhe, die sich auf alles legte, womit er in Berührung kam. Auf einmal fühlte sich alles richtig an. Was er tat, das tat er, weil es gut war, nicht nur, weil es nötig war. Wenn er sich das saftige Rot der Tomaten ansah, dann nicht, um sich zu fragen, ob sie reif waren oder ob er sie kaufen würde, sondern weil das bloße Anschauen ihm Freude machte. Jeder Schritt, den er ging, war ein guter Schritt. Er ging, weil das Gehen schön war,

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