Der Schattensucher (German Edition)
doch so: Wenn heute hier in diesem Keller Euer Körper verendet, dann ist es auch für immer zu Ende mit dem großen Thanos. Eine Weile werden die Menschen noch Eurer gedenken, aber bald schon verschwindet Ihr in den Tiefen der Geschichtsbücher. Dort werdet Ihr die unrühmliche Rolle dessen spielen, der aus Herrschsucht die Stadt verseuchte. Briangard und der Graf werden nur noch als Sinnbild des Bösen in der Erinnerung fortleben.«
»Verstehe. Das hilft Euch aber nicht besonders weiter.«
»Richtig. Die Sehnsucht meines Großvaters brennt auch in meinem Herzen. Mein Vater hat es durch Tüchtigkeit versucht. Er wollte um jeden Preis der reichste Geschäftsmann der Stadt werden, um damit seinen Namen bekannt zu machen. Auch das war töricht. Wie schnell kann ein solcher Ruhm enden? Nein, es gibt eine Unsterblichkeit, die weiter reicht, sie ist beständig und befriedigend. Sie wohnt in der Erinnerung der Menschen, auch derer, die erst in vielen Jahren geboren werden. Mein Körper wird bald sterben, aber mein Name wird für immer in Alsuna lebendig bleiben. Der Name Gereon wird das Sinnbild des Guten sein, desjenigen, der die Stadt geeint und sie von ihrem Tyrannen befreit hat.«
»Glaubt Ihr, sie werden Euch zum Herrscher ernennen, wenn ich tot bin?«
»Sie werden es mir wohl anbieten. Aber in meiner Bescheidenheit werde ich ablehnen und ihnen sagen, dass es nie wieder einen einzelnen Herrscher in Alsuna geben darf. Sie werden mich dafür umso höher in die Weihen ihrer Verehrung heben. Das Wichtigste habe ich aber nicht erwähnt.« Gereon wandte sich zu den Gefäßen auf dem Tisch und den Behältern im Hintergrund. »Sie werden mich als den Mann kennen, der ihnen Linderung gebracht hat. Die Seuche ist das Leid, das sie verbindet. Ich werde ihre Hoffnung sein.«
»Es gibt kein Heilmittel, das die Seuche besiegen kann!«
»Das weiß ich besser als jeder andere«, sagte Gereon und lächelte süffisant. »Es hat lange gebraucht, ein Rezept zu schaffen, gegen das kein Heilmittel gefeit ist. Lange habe ich die dafür nötige Pflanze gesucht. Ich habe sie gefunden.«
»Also wart Ihr es«, sagte Thanos mit großen Augen. »Ihr habt den Fluss verseucht. Ihr habt diese Menschen ins Leid gestürzt und die Stadt gespalten.«
»Bitte seid nicht so ungerecht zu mir. Es ist wahr, die Seuche hat viel körperliches Leid hervorgerufen. Aber sie ist die Rettung für die Seele der Stadt. Nur durch ihr Leid kann Alsuna sich endlich aus Eurer Unterdrückung befreien. Die Unterdrückung des menschlichen Willens ist doch eine ungleich schlimmere Seuche, nicht wahr? Nie würden sich die Menschen von Euch lösen, wenn sie keinen Hass gegen Euch entwickelt hätten. Sie glauben, Ihr seid für die Seuche verantwortlich. Das mag nicht im Einzelnen stimmen, aber sie haben die viel wichtigere Wahrheit erkannt: Ihr seid für das eigentliche Leid verantwortlich.«
»Ich habe nie einem Menschen seinen Willen genommen.«
Gereon lächelte. »Ja, das sagt Ihr so leicht. Aber wenn die Alsuner glauben, nur nach Euren Vorstellungen leben zu können, dann habt Ihr nichts anderes getan.«
»Ich sage ihnen von Anfang an, welche Pflichten und auch welche Freiheiten sie haben, wenn sie unter meiner Herrschaft stehen. Ihr möchtet ihnen das Gefühl geben, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Doch ohne es zu merken, werden sie letztendlich von Eurem Willen bestimmt. Was ist nun besser?«
»Eine Welt, in der alles geplant und geregelt ist, in der es feste Zuordnungen gibt, ist nicht lebenswert. Die Menschen brauchen das undurchsichtige Spiel von Licht und Schatten, damit das Leben interessant bleibt. Nur wenn die Welt nicht durchschaubar ist, kann jeder das sein, was er möchte. Die Illusion, selbst über das eigene Leben zu bestimmen, ist doch höchst befriedigend.«
»Dass sie an einer Seuche sterben, ist aber keine Illusion.«
»Ihr habt recht. Alsuna steht am Abgrund des Todes, die Seuche hat alle Teile der Bevölkerung erreicht. Noch nie waren sie so zerstritten wie jetzt. Jetzt, wo niemand mehr weiß, wer zu wem gehört, ist der Zeitpunkt, ihnen den Grafen wegzunehmen. Wenn stattdessen jemand kommt, der ihnen ein Heilmittel bringt, werden sie vergessen, dass es da einen gab, an den sie einmal geglaubt haben. Damit ist der Akt ihrer Emanzipation vollendet. Ich werde die Menschen im Guten einen und das Serum wird ihre Zerrissenheit heilen.«
»Spätestens in einer Generation wird es mit dieser Einheit vorbei sein und jeder macht nur noch das,
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