Der Schattensucher (German Edition)
Marmorgängen wie ein Fremder.
Was Thanos wohl gerade machte? Er ging zur Bibliothek und klopfte an die Tür. Thanos bat ihn herein.
Er saß an seinem gewohnten Platz. Im Schein einer Kerze schaute er über ein Bündel beschmutzter Blätter, die mit blauen Buchstaben beschrieben waren. Etwa die Hälfte hatte er offenbar schon gelesen. Erst nach einigen Augenblicken sah Thanos gedankenverloren auf. Levin stand noch immer an der Tür.
»Wie bei unserem ersten Treffen damals«, sagte Thanos. »Du hast dort gestanden und dich nicht getraut, mich zu stören.«
»Stimmt, ja.« Levin blickte nach unten.
»Was ist? Willst du nicht herüberkommen?«
»Wird sie sterben?«
Thanos sah ihn schmerzvoll an.
»Heute Nacht, nicht wahr?«
»Möglicherweise.«
Levin blieb stehen und schaute noch immer zu Boden. Thanos stand auf, kam zu ihm herüber und nahm ihn in die Arme. Levin legte seinen Kopf auf Thanos’ kräftige Schulter und schloss die Augen. Sie schwiegen und standen eine ganze Weile da. Wie war das möglich? Wie konnte er einen solchen Schmerz im Inneren spüren und sich gleichzeitig so geborgen fühlen?, fragte er sich in Thanos' Armen.
Später sagte ihm Thanos, dass er gerade dabei war, Alvins Aufzeichnungen zu lesen. Noach habe ihm verraten, wo er sie in seinem Haus versteckt hielt. Einer der Soldaten habe sie ihm beschafft.
»Dann will ich dich mit deinem Sohn allein lassen«, sagte Levin mit geröteten Augen.
»Nein, bitte. Setz dich zu mir und lies mir vor.«
»Gut.« Levin nickte ehrfürchtig. Er nahm auf dem Stuhl neben Thanos Platz und begann zu lesen.
Schon bald hatte Levin Alvins Ton gefunden und er verlor sich in seiner Welt. Das tat gut, er merkte, wie sich in seiner Seele etwas weitete.
Alvins Aufzeichnungen waren teilweise bruchstückhaft und nicht immer konnte man alle Ereignisse nachvollziehen. Zwei ganze Monate in der Mitte schien er gar nichts geschrieben zu haben, nur eine kurze Zusammenfassung folgte. Ansonsten fanden sich lange Beschreibungen von kleinen alltäglichen Begebenheiten, Gefühlslagen, Hoffnungen und Sehnsüchten. Thanos verlor nicht ein einziges Mal die Aufmerksamkeit. Manchmal lachte er auf. »Ja, das ist mein Junge«, sagte er dann. Manchmal wurden seine Augen feucht und manchmal leuchtete sein Gesicht vor Stolz auf. Levin glaubte festzustellen, dass Thanos ihn ab und zu anschaute, als sitze ihm der wirkliche Alvin gegenüber. Dann gab Levin sich Mühe, den Text so lebendig wie möglich vorzutragen.
Einmal wurde Thanos ganz still, als Levin vorlas:
Meine Sehnsucht nach Briangard war heute kaum mehr zu ertragen. Vielleicht lag es daran, dass ich einen äußerst zähen Tag hatte. Immerzu stellte ich mir vor, wie ich durch den Palast gehe, die Diener mich grüßen und ich ein paar schöne Sachen anhabe; nicht diese schmutzigen Lumpen wie seit Wochen. Die Schmiede ist ein gemütlicher Ort, aber wenn man einmal auf Briangard gelebt hat, kann man auch mit dem schönsten Platz in Alsuna nicht mehr zufrieden sein. Dann ist da diese Unruhe …
Vielleicht mache ich mir auch nur etwas vor. Seit wenigen Tagen weiß ich, dass ich bald hier wegmuss. Dann wird eine Zeit des Leidens beginnen. Ich werde allein sein und mein Körper wird auf eine harte Probe gestellt. Ja, ich habe Angst. Warum gebe ich das nicht einfach zu? Ist es eine Schande, wenn ich mir jetzt meinen Vater herbeiwünsche? Wenn ich nur wüsste, was er gerade denkt. Wartet er ungeduldig, bis ich meinen Auftrag erledigt habe, oder kann er sich vorstellen, was ich hier durchmache? Aber bestimmt fragt auch er sich, was ich gerade über ihn denke. Bestimmt tut er das. Er fehlt mir.
Levin hielt inne und blätterte weiter. Thanos starrte ins Leere. »Ich hätte ihn so gern besucht damals«, sagte er plötzlich. »Es hätte gereicht, wenn ich ihn nur einmal in die Arme hätte schließen können. Es ist ein großes Vorrecht, Abschied nehmen zu können.«
Levin schluckte. Er wollte nicht daran denken, am liebsten hätte er hier in der Bibliothek die Zeit angehalten. Unweigerlich dachte er daran, dass er nachher, wenn er zu Ende gelesen hatte, den Raum verlassen würde, um zu Elena zu gehen. Wahrscheinlich schlief sie. Er würde bei ihr sitzen, bis sie aufwachte. Und er würde sie, das wusste er jetzt, noch in dieser Nacht ganz fest umarmen.
Die letzten Seiten der Aufzeichnungen waren schwer zu lesen. Häufig waren die Buchstaben vom Regen verwischt oder sie waren unleserlich geschrieben. Alvin schien die Feder kaum mehr
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