Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)

unter seinen Artgenossen. Kriss sah, wie sich Wurzelhände zu Fäusten ballten. Die grünen Riesen verengten den Kreis um die Menschen. Manche der Wesen gaben ein dunkles Röhren von sich; es klang wie der Gesang von Schlachthörnern.
    »Verfluchte Monster!«, brüllte ein Matrose. Lorgis hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten.
    »Orrm!«, rief Kriss, als sie ihn aus einem Steinhaus treten sah. »Orrm, was ist passiert?«
    Orrm schlurfte an ihr vorbei und sprach zu Hassk. Dieser antwortete mit einem langen, knarrenden Wortschwall.
    »Die Frau ... hat das Dorf unerlaubt verlassen«, erklärte Orrm auf Feban. Er drehte sich dem Kapitän zu.
    »Auf eigene Faust!«, versicherte der Kapitän ihm; Kriss sah selbst aus einigen Schritten Entfernung den Schweißfilm auf Branskers Stirn in der Sonne glitzern. »Lasst sie los und ich sorge dafür, dass sie bestraft wird!«
    »Ich habe nichts getan!«, wehrte sich Aulin. Die roten Locken hingen ihr ins Gesicht, sie hatte die Zähne vor Schmerz zusammengebissen. »Die Viecher haben mich einfach angegriffen!«
    »Schnauze!«, donnerte Bransker. Speichel flog aus seinem Mund. »Kommt nicht wieder vor«, sagte er sanfter zu Orrm. »Ich schwör’s!«
    Orrm blieb stocksteif stehen, so dass Kriss glaubte, er habe im wahrsten Sinne des Wortes Wurzeln geschlagen. Dann drehte er den knorrigen Körper zu Hassk. Als er sprach, schien es, als übersetze er die Worte des Kapitäns.
    Aulin ächzte, als sie auf dem Boden landete. Ihre Häscher traten einen Schritt zurück. Hassk rief den anderen Kindern der Erde etwas zu. Der Kreis um die Matrosen lockerte sich, löste sich auf.
    »Missgeburten!«, zischte Aulin und spuckte vor ihnen aus. Mit einem Satz war der Kapitän bei ihr und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Aulin hielt sich die Wange, mehr vor Schreck als aus Schmerz. Bransker verneigte sich hastig vor den umgebenden Riesen. »Kommt nicht wieder vor!«, versprach er abermals.
    Kriss stieß die Luft aus, als ihr Wächter Lian und sie losließ. Sie liefen zu den Matrosen; Kriss bemerkte, dass einer von ihnen einen dunklen, feuchten Fleck an seinem rechten Hosenbein hatte.
    »Tu so was nie wieder!«, raunte der Kapitän Aulin zu. Und leiser fügte er hinzu: »Zumindest nicht ohne Befehl!«
     
    Es war den Menschen erlaubt, sich weiterhin im Freien aufzuhalten – innerhalb der Dorfgrenze, die durch den äußersten Ring aus Steinhäusern bestimmt wurde. Die Kinder der Erde gingen weiterhin ihren Geschäften nach. Sie töpferten kleine Tierfiguren zu ihrem Vergnügen, woben ihre Teppiche, mit denen sie das Innere der Steinhäuser schmückten (»Zum Gedenken ... an die Schöpfer«) – aber die meiste Zeit standen sie einfach nur herum und blickten erhobenen Hauptes und mit ausgestreckten Armen zur Sonne, während ihre Füße sich in die weiche Erde bohrten. Manchmal ließen sich handtellergroße Schleierfalter und andere Insekten auf ihren Schultern und Häuptern nieder und taten sich an ihren Blüten gütlich, ohne dass die Pflanzen reagierten.
    Zuerst hatte Kriss gedacht, dass sie schliefen, aber weit gefehlt. Manchmal reichte eine hastige Handbewegung eines Menschen und sofort langten die grünen Riesen nach ihren Speeren. Aber sie griffen nicht an. Und auch die Matrosen verhielten sich ruhig. Der Zwischenfall mit Aulin blieb der einzige seiner Art.
    Einundsiebzig Kinder der Erde lebten auf der Insel. Nicht alle davon waren gleichzeitig im Dorf, manche besuchten die großen Bäume im Dschungel, um ihnen »zu lauschen«, wie Orrm es ausgedrückt hatte. Er hatte ihr bestätigt, dass die Kinder der Erde keine Geschlechter kannten – aber er war nicht beleidigt, dass sie von ihm als Mann dachte. Die Begriffe hatten keine Bedeutung für ihn oder sein Volk – aber er verstand, dass sie für die Menschen wichtig waren.
    »Wie vermehrt ihr euch dann?«, hatte Kriss gefragt, ohne zu wissen, ob sie damit gegen irgendein Tabu verstieß. Doch Orrm war sehr geduldig mit ihr. Er hatte ihr erklärt, dass jedes Mitglied seines Volkes mehrmals im Laufe seines Lebens eine Knospe auf dem nabellosen Bauch ausbildete. Daraus bildeten sich Ableger, die in Erde gesteckt und gegossen wurden – bis sie reif genug waren, aus dem Mutterboden gezogen zu werden und auf eigenen Füßen zu wandeln.
    Er hatte sie in das am strengsten bewachte Steinhaus geführt. Es besaß kein Dach, so dass Sonne und Regen in sein Inneres gelangten – bei Unwettern wurde es mit Matten aus Pflanzenfasern abgedeckt. Auch