Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
vorbeiführte.
» Schessk! « Lian blieb unerwartet stehen. »Jetzt merk ich’s auch!«
Kriss wünschte sich, er hätte das nicht gesagt. Sie sah sich um. Als Ausländer ernteten sie nur ein paar flüchtige Blicke der Einheimischen. Niemand schien ein ernsthaftes Interesse an ihnen zu haben. Wieso glaubte sie dennoch –?
Sie schrie auf, als etwas auf ihre Schulter stieß. Reflexartig schlug sie um sich und scheuchte dabei einen Vogel auf, der auf ihr gelandet war – ein mechanischer Vogel wie jene, die sie auf dem Weg hierher gesehen hatten. Kriss starrte ihn an. Er hing vor ihnen in der Luft, seine Flügel, besetzt mit hauchdünnen Metallfedern, bewegten sich zu langsam, als dass sie ihm Auftrieb verschafft hätten. Blaue Kristallaugen klimperten mit kupfernen Lidern.
Sie lächelte unsicher. »Hast du mich erschreckt!«
Der Vogel sang wie eine gläserne Flöte. Er war kaum größer als Kriss’ Hand.
»Wo is’ das Vieh hergekommen?«, fragte Lian und sah sich argwöhnisch um.
»Er muss aus seinem Käfig entkommen sein.« Kriss streckte ihren Zeigefinger aus. Der Vogel landete darauf und schüttelte behaglich sein metallenes Gefieder. Er wog fast nichts.
»Wir haben keine Zeit für so was!«, mahnte Lian.
Kriss bemerkte die halbinteressierten Blicke der Passanten. »Husch!« Sie hob den Finger. »Ich hab nichts für dich! Flieg weiter!«
Der Vogel warf sich wieder in die Luft und umkreiste sie einmal, wobei sein krummer Schnabel eine fröhliche Melodie von sich gab. Aber er blieb bei ihnen. Kriss erinnerte sich, dass Zutraulichkeit diesen Geschöpfen eingebaut worden war. »Flieg weiter!«, sagte sie und wedelte mit der Hand. Doch der Vogel tschilpte nur.
Lian verdrehte die Augen. »Wahrscheinlich taucht der echte Besitzer gleich auf. Komm jetzt!« Er zog sie mit sich. Der Vogel hing hinter ihnen in der Luft. Sein Gesang war traurig. Aber Lian hatte Recht. Ihnen blieb keine Zeit.
Sie hatten kaum das Ende der Straße erreicht, als man sie entdeckte.
Keine zwanzig Schritte vor ihnen tauchten sie aus einer Nebenstraße auf: zwei Männer und eine Frau, alle hellhäutig und mit den gleichen grauen Jacken bekleidet wie Dorello und der alte Mann.
» Schessk! «, hörte sie Lian abermals fluchen.
Der Vogel hat sie zu uns geführt! , war Kriss’ erster Gedanke. Fast gleichzeitig fuhren Lian und sie herum. Aber der Vogel war längst fort. Dafür erschienen am anderen Ende der Straße zwei weitere Graujacken.
»Hier lang!«, rief Lian und zerrte sie in eine enge Passage zwischen zwei Häusern. Eine Bettlerin hockte zusammengekauert an der Wand und beobachtete mit leeren Augen, wie die beiden Milorianer an ihr vorbei rannten.
Wir sollten die Stadtwächter informieren! , dachte Kriss. Oder einfach um Hilfe rufen!
Beide Pläne waren zum Scheitern verurteilt. Die Straße, auf der sie herauskamen, war menschenleer. Kriss rang nach Luft, bunte Flecken tanzten vor ihren Augen. Doch Lian gönnte ihr keine Pause.
»Weiter!«, rief er. Und sie liefen. Keuchend und schwitzend blickte Kriss über ihre Schulter. Die Graujacken blieben ihnen auf den Fersen. Und sie holten auf.
Sie verließ sich völlig auf Lian. Er schien genau zu wissen, wohin sie liefen.
Vielleicht aber auch nicht. Denn die nächste Abzweigung führte sie direkt in eine Sackgasse. Vorn und zu beiden Seiten erhoben sich Häusermauern ohne einen Spalt dazwischen. Mülltonnen verbreiteten einen ekelerregend süßlichen Gestank. Der Basar, sein Lärm und seine Menschen schienen weit entfernt.
Lian fluchte wieder und machte Anstalten umzudrehen. Aber sie konnten nicht mehr fliehen. Ihre fünf Verfolger hatten sie längst eingeholt. Sie näherten sich langsam, wie ein Rudel Säbelzahnwölfe, das um die Hilflosigkeit seiner Beute wusste.
»Wer seid Ihr?«, rief Kriss. »Und was wollt Ihr von uns?«
»Nur mit Euch reden«, antwortete die einzige Frau unter ihnen. Sie hatte ein gemeingefährliches Gesicht mit blitzenden Augen, ihr Haar war zu einem strengen Zopf geflochten.
»Wir haben aber keine Lust zu reden!«, sagte Kriss atemlos. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Lian in Angriffsstellung ging. Als ob er gegen die fünf etwas ausrichten könnte!
»Dann gebt uns einfach, was immer Ihr in der Bibliothek gefunden habt.« Kriss hatte nicht gedacht, dass die Frau noch hässlicher hätte werden können – bis sie sie lächeln sah.
Sie legte die Hand schützend auf ihre Kleidtasche. »Nur über meine Leiche!«
Das Lächeln der Frau wurde breiter.
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