Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
anderes behauptet!«
Lian versteckte seine Befriedigung nur schlecht.
Kriss ignorierte ihn. Sie brannte darauf, zurück aufs Schiff zu kommen, um die Seite eingehend zu studieren. Sie hatte den Kupferstich noch deutlich vor Augen: der Urwald, die Sterne, die blühenden Pflanzen. Veribas hatte sie nicht ohne Grund zu dem Bild geführt. Aber was hatte er ihnen damit sagen wollen? Oder lag sie völlig falsch? Stand sein nächster Wegweiser auf einer ganz anderen Seite?
»Doktor Odwin!«
Kriss erstarrte, als die freundliche, aber fremde Stimme ihren Namen rief. Sie war weit weg von Zuhause – wer sollte sie hier kennen? Mit zittrigen Beinen drehte sie sich um.
Ein Mann um die dreißig näherte sich ihnen. Er trug eine hüftlange graue Jacke; sein Gesicht war mager und kantig, aber nicht unattraktiv, sein Haar tiefschwarz und zu kurzen Stoppeln geschoren. Es waren seine Augen, die sie fesselten, mit ihrem fast erschreckend hellem Blau.
»Ja bitte?« Sie machte keinen Hehl aus ihrer Verwirrung und Nervosität.
»Ihr seid es also tatsächlich!«, sagte er strahlend und verneigte sich knapp. »Markon Dorello, zu Euren Diensten.«
Kriss sah zu Lian, der den Mann argwöhnisch musterte. »Kennen wir uns, mein Herr?«
»Nicht persönlich«, antwortete Markon Dorello. »Aber ein Freund von mir kennt Euch. Seht Ihr, wir sprachen soeben über Euch – und schon sehen wir Euch am anderen Ende des Raumes. Ist das nicht ein Zufall?«
»Ja«, sagte sie, todsicher, dass er ihnen irgendwelche Märchen auftischte. Und wenn er der Einbrecher war? Lian schien sich nicht sicher zu sein, zumindest waren seine Finger ungekreuzt. Besser, wenn sie weiterkamen. »Ich bin hocherfreut, Herr Dorello. Aber leider sind wir sehr in Eile ...«
»Natürlich. Es war nicht meine Absicht, Euch aufzuhalten. Es ist nur – mein Freund hat sich sehr gefreut, Euch hier zu sehen. Wisst Ihr, er hat Eure Mutter auf ihrer Expedition nach Dalahan begleitet.«
Für einen winzigen Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen.
Kriss starrte ihn an und fühlte ihr Herz pochen. »Wie ... wie ist sein Name?«
»Harander Baskil«, antwortete der Mann mit den blauen Augen.
Kriss forschte in ihrem Gedächtnis. Ja, es hatte einen Harander Baskil auf der Expedition gegeben. Aber – er galt genau wie Bria und die anderen als verschollen!
Als habe er ihre Gedanken gelesen, sagte Markon Dorello: »Er wurde vor einem Monat hier, an der Küste von Ramakhan an Land gespült. Er bat mich, ihn abzuholen und zurück nach Miloria zu begleiten. Er hat eine Menge durchgemacht.«
Kriss nahm nur halb wahr, wie Lian ihren Arm berührte. Doch er hatte die Finger noch immer nicht gekreuzt. Trotzdem schienen ihm der Mann und seine Geschichte ganz und gar nicht zu gefallen.
Aber was, wenn es stimmte, was er sagte? Vielleicht würde sie endlich erfahren, was Bria zugestoßen war. Fiebrig vor Aufregung sah Kriss in Dorellos freundliches Gesicht. Wenn er ihnen etwas antun wollte, würde er es nicht hier tun. Oder? »Wo ist Euer Freund?«, fragte sie.
»Wir hatten uns aufgeteilt, um nach Euch zu suchen. Wir waren nicht sicher, welchen Weg Ihr genommen hattet. Aber wir wollten uns gleich im nächsten Gang wiedertreffen. Er ist sehr aufgeregt, Euch hier zu sehen. Er sagt, Ihr sähet genauso aus wie Eure Mutter.«
Und da erkannte sie die Wahrheit. Es tat weh.
»Ihr lügt«, sagte Kriss, noch bevor sie Lians gekreuzte Finger sah.
»Madame?«
»Ihr habt mich ›Doktor Odwin‹ genannt.« Ob er hören konnte, wie ihr Herz hämmerte? »Aber ich habe meinen Doktortitel erst im letzten Sommer erhalten. Und die Expedition liegt drei Jahre zurück.«
Markon Dorello schien ehrlich bestürzt. »Nun, Harander ging wohl davon aus –«
»Harander Baskil ist nicht hier. Und Ihr seid kein Freund von ihm.« Kriss überlegte, die Wachen zu rufen – aber was, wenn sie die herausgerissene Seiten bei ihr fanden? »Ich will mit Euch nichts zu schaffen haben, Herr Dorello, oder wie auch immer Ihr heißen mögt«, sagte sie schließlich. »Lebt wohl!« Sie und Lian ließen den Fremden stehen. Er machte keine Anstalten, ihnen zu folgen.
»Ich dacht’ schon, du gehst mit ihm«, flüsterte Lian und warf einen Blick über seine Schulter.
Kriss’ Herzschlag wollte sich immer noch nicht beruhigen. »Ich wollte ihm glauben«, gestand sie und hasste den Mann für die kurze Hoffnung, die er in ihr geweckt hatte. Er musste sie im Haus der Baronin belauscht haben. So hatte er ihren Namen erfahren
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