Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
Letzte ist, den ich mir zum Feind machen will.
Der Vogel hopste von ihrer Schulter auf die Tischplatte und betrachtete den Brief, als könne er ihn wirklich lesen. Kriss schenkte ihm ein Lächeln, tunkte die Feder wieder ins Tintenglas und fuhr fort:
Ich habe beschlossen, den Vogel zu behalten. Ich glaube nicht, dass er von hier aus zu seinem Besitzer zurückfindet, wer auch immer das sein mag. Es ist schön, wieder ein Haustier zu haben und er lenkt mich ab, wann immer ich kurz davor bin, die Wände hochzugehen. Ich weiß, er ist nicht wirklich lebendig. Aber es ist schwer daran zu denken, wenn man ihn so sieht. Nun muss ich mir nur noch einen passenden Namen für ihn einfallen lassen.
Gerade flötet er sein Lian-Lied. Und schon klopft es. Mehr im nächsten Brief.
Liebe Grüße.
Kriss
PS: Ich wünschte, Du wärst hier.
Es klopfte wieder. »Komm rein, Lian«, sagte sie und blickte über die Schulter zur Tür.
Er öffnete verblüfft, vielleicht auch ein wenig misstrauisch. »Woher hast du gewusst, dass ich’s bin?«
Kriss lächelte. »Der Vogel hat dich an deinen Schritten erkannt. Er hat sehr gute Ohren.«
Der Vogel plusterte sich stolz auf. Kriss tätschelte seinen Schnabel und die Maschine gab ein leises Gurren von sich.
Lian kratzte sich am Hinterkopf. »Bist du schon weitergekommen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht.«
»Wir warten schon fast ’nen ganzen Tag.«
»Ich tue, was ich kann«, sagte sie ruhig.
Er zeigte mit dem Daumen auf den Vogel. »Zum Beispiel dem Vieh da neue Kunststücke beibringen?«
»Lian, ich kann mir die Lösung nicht einfach aus der Tasche zaubern!«
»Ich denk’, du bist ein Genie?«
»Das habe ich nie gesagt!« Der Vogel unterstützte sie krächzend.
»’s klang aber immer so. Du hast ja schließlich keine Gelegenheit ausgelassen, mir das unter die Nase zu reiben.«
Kriss stand auf und verschränkte die Arme. »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich einige Dinge gut kann! Und vielleicht – das ist nur so ein Gedanke! – käme ich schneller voran, wenn man mir jemanden zur Seite gestellt hätte, der lesen kann?«
Lian ließ die Knöchel knacken. »Ich bin nich’ hier, um Bücher zu wälzen!«
»Wofür dann?«
»Um aufzupassen, dass du in der richtigen Welt nicht untergehst!«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Tja, bis jetzt warst du dieser Expedition jedenfalls keine besonders große Hilfe!« Der Vogel stimmte ihr trillernd zu.
Er sah sie düster an. »Ach nein?«
»Nein! Soweit ich weiß, ist dir der Maskenmann entkommen. Und wenn ›das Vieh‹ nicht gewesen wäre, hätten uns Ruhndors Schergen längst geschnappt!« Die Kristallaugen des Vogels blickten zu ihr auf.
Lian tat einen Schritt in den Raum. »Und wenn ich nich’ gewesen wär’, hätt’st du dich von dem Perückenträger zurück nach Hause schicken lassen!«
»Leider kann nicht jeder von uns Türen knacken wie ein gemeiner Dieb.«
Das hatte gesessen. Lian funkelte sie an. Kriss hielt den Atem an. Der Vogel flatterte zwischen die beiden.
»Halt du dich da raus!«, ermahnte Lian die Maschine.
»Deswegen sprichst du nicht über deine Vergangenheit«, sagte Kriss. »Du bist bei der Baronin eingebrochen und sie hat dich erwischt. So bist du in ihren Dienst gekommen, ist es nicht so?«
Lian machte einen Schritt auf sie zu; Kriss braucht all ihren Mut, nicht zurück zu weichen.
»Du glaubst, du weißt alles, was?«, fragte Lian mit gemeinem Lächeln. »Aber vielleicht hat sich Madame doch in dir getäuscht.« Er wandte er sich ab. »Viel Spaß noch mit dem Federvieh!«
Kriss blinzelte erschrocken, als er sie mit knallender Tür verließ. Der Vogel krähte Lian beleidigt nach. Sie ließ ihn auf ihrem Finger landen und streichelte seinen Kopf. Er legte den Kopf schräg und tschilpte fragend.
»Schon gut«, sagte Kriss, ohne sich da sicher zu sein. »Ist schon gut. Komm, wir haben zu tun!«
Die Schatten der Palmen wurden kürzer, kippten in die andere Richtung und zogen sich wieder in die Länge. Kriss hörte hinter der verschlossenen Tür, wie sich die Matrosen über die Hitze im Schiff beschwerten. Wahrscheinlich wussten die Luftfahrer genau, dass Kriss sie hören konnte. Aber was sie auch versuchte, der Kupferstich blieb unergründlich; es war, als liefe sie gegen eine Granitwand und alles, was es ihr brachte, waren Kopfschmerzen. Vielleicht war Veribas’ Brief gar nicht echt. Vielleicht hatte sich jemand einen grausamen
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