Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
Kampf im Wald schien ihn nicht halb so sehr erschreckt zu haben wie sie. Im Gegenteil. Schon vorher hatte Kriss das Gefühl gehabt, dass zumindest ein Teil von Lian ihn genossen hatte. Sie wusste nicht, ob sie ihn dafür bewundern oder für verrückt halten sollte.
Die Köpfe in den Nacken gelegt verfolgten sie und die Matrosen, wie er den Baum erklomm. Kurz darauf lehnte er über der Balustrade der grünen Veranda und winkte ihnen gut gelaunt zu. »Hier liegt ’ne Strickleiter! Ich lass’ sie zu euch runter!«
Lorgis nahm Barabell Huckepack und kletterte voraus. Nesko folgte ihnen und Kriss bildete die Nachhut. Der Aufstieg fiel ihr erstaunlich leicht. Vielleicht war es auch einfach ihre quälende Neugier, die sie ihre Höhenangst vergessen ließ. Wer hatte dieses Haus geschaffen? Es schien genauso alt wie der Dschungel selbst. Wie hatte Veribas es gefunden? Oder hatte er sie gar nicht hierher führen wollen? War es bewohnt und wenn ja, wer lebte hier?
Oben angekommen umrundeten sie die Veranda, auf der Suche nach einem Eingang. Moosäffchen hatten sich hier niedergelassen. Wie kleine, grüne Menschlein flohen sie kreischend in die umgebenden Äste. Die Flechten auf ihrem Fell tarnten sie dabei perfekt.
Bald standen Kriss und ihre Begleiter vor einer Tür. Auch sie schien aus dem Haus selbst gewachsen sein. Das Türblatt wurde nicht von Scharnieren gehalten, sondern einer Reihe biegsamer Zweige.
Es gab kein Schloss.
Die frisch geladene Pistole vor sich haltend, übernahm Lian wie selbstverständlich die Führung. Er zählte stumm bis drei, dann trat er gegen die Tür. Sie schwang knarrend nach innen.
Ein hölzernes Zimmer kam dahinter zum Vorschein. Sonnenlicht fiel durch die Fenster im Dach ... und ein alter Mann in einem roten Hausmantel stand zu ihrem Empfang bereit. Sein Haar hatte die Farbe von Spinnweben, sein Bart war kurz und gepflegt. Eine dünne Brille lag vor seinen traurigen Augen, doch er lächelte.
»Willkommen in meinem bescheidenen Heim, Reisende.« Er sprach Feban mit milorianischem Akzent und verneigte sich mit steifem Rücken. »Drestan Veribas, zu Euren Diensten.«
Das grüne Haus
»Aber –!« Kriss hatte es die Sprache verschlagen. Sie hatte nicht geglaubt, dass Veribas noch am Leben sein könnte. Vielleicht hatte es am Tonfall des Briefes an seinen Freund gelegen. Vielleicht auch daran, dass der Forscher so sehr zur Legende geworden war. Aber sie erkannte ihn aus Portraits aus dem Universitätsmuseum. Ihr wurde heiß und kalt, als ihr klar wurde, dass der Mann vor ihr stand, der sie nach Dalahan führen konnte!
»Doktor Veribas!«, begann sie. »V-Verzeiht unser Eindringen, aber wir –!«
Doch Veribas sah durch sie hindurch und sprach unbeirrt weiter: »Ich bedaure, Euch nicht persönlich begrüßen zu können. Denn ich fürchte, wenn die Maschine diese Nachricht abspielt, bin ich bereits seit einiger Zeit tot.«
Tot? Maschine? Erst jetzt erkannte Kriss die kugelförmige Vorrichtung, die hinter Veribas auf einem Tisch stand. Sie war mit mehreren kristallenen Linsen ausgestattet, die alle auf den Forscher deuteten und in einem inneren Licht erstrahlten. Eine Aura aus buntem Staub umflirrte den Apparat. Kriss streckte eine Hand aus. Sie fasste geradewegs durch Veribas hindurch. Natürlich ... Ihre Schultern sanken herab. Ein Memogramm.
»... hoffe, mein Ende war genauso ruhig wie die letzten Jahre, die ich in diesem Haus verbracht habe«, sagte Veribas’ Geist gerade. Kriss bemerkte die Leberflecke und dicken Adern auf seinen Händen. »Wer auch immer der Architekt dieses Hauses gewesen sein mag, ich glaube, er hatte sich nicht vorgestellt, dass es einmal einem alten Forscher als Refugium dienen würde.« Ein Lächeln huschte über die Züge des toten Mannes. Kriss fragte sich, ob Veribas niemals erwartet hatte, dass sein alter Freund Gorien, an den sein letzter Brief gerichtet gewesen war, hierher finden würde. Oder ob der Memogrammprojektor so eingestellt worden war, dass er verschiedene Nachrichten für verschiedene Besucher abspielte.
»Ich habe Grund anzunehmen, dass Ihr nicht zufällig auf meine grüne Zuflucht gestoßen seid, sondern die ersten beiden Hinweise entschlüsseln konntet. Bravo. Ich hoffe weiterhin, dass Ihr Gelehrte seid oder zumindest Menschen auf der Suche nach Wissen und keine Eroberer.«
Möglich, dass sie es sich nur einbildete, doch Veribas’ Blick schien sich plötzlich auf Kriss zu richten. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf.
Weitere Kostenlose Bücher