Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
seinem Blick hinaus in die Unterwasserlandschaft. Als Kind hatte er sich so die Dunkelwelt immer vorgestellt, in die der Weltengeist, wenn man seinen Priestern glauben durfte, alle unreinen Seelen verdammte, um sie zu läutern; leblos, kalt und düster. In den letzten acht Jahren hatte er gelernt diese Aussicht zu hassen und eine fast schmerzhafte Sehnsucht nach freien Himmel und der Sonne auf seinem Gesicht erfüllte ihn. Der Landgang in Dschakura war viel zu kurz gewesen und die Landung in Raxander konnte nicht schnell genug kommen. Aber bald, tröstete er sich, bald würden er und die anderen das verfluchte Schiff ein für alle Mal verlassen können. Sobald das Fräulein Archäologin sie ans Ziel geführt hatte.
»Haben die Gefangenen noch etwas gesagt?«, ertönte die Granitstimme des Generals. Die kristallene Linse in seiner rechten Augenhöhle funkelte im roten Halbdunkel wie ein Smaragd vor einer Kerzenflamme.
»Doktor Odwin hat versucht, mich zur Meuterei zu bewegen«, entgegnete sein Adjutant unbekümmert. »Ansonsten nichts Weltbewegendes. Wenn mir die Frage gestattet ist: Warum habt Ihr dem Mädchen nicht gesagt, was Ihr vorhabt?«
»Zeitverschwendung«, sagte Ruhndor verächtlich.
»Natürlich, General.«
»Ihr glaubt nicht, dass sie die Wahrheit sagen?«
»Ich glaube ihnen, dass sie nicht sterben wollen«, sagte Dorello lächelnd. »Zumindest werden wir es bald genau wissen.«
Draußen veränderte sich die Landschaft. Die Lichtlanzen der Morgenstern schälten die Umrisse von Schiffswracks aus der Finsternis. Seepocken wucherten auf den Überresten gepanzerter Rümpfe und fingergroße Fische huschten durch von Rost gefressene Löcher. Dorello versuchte sich die Schlacht vorzustellen, die hier während des Großen Feuers in der Oberwelt getobt haben musste, und wieder kehrten die Erinnerungen zurück: die Körper seiner Kameraden im Schlamm von Skeilar. Pfützen aus schmutzigem Wasser und Blut, die in Wahrheit die Fußabdrücke der riesigen Kriegsmaschinen waren. Todesboten und Fleddervögel, für die das Schlachtfeld ein wahres Festmahl bereitet hatte. Das Donnern ælonischer Artillerie überall; Blitze, die die Nacht zerrissen. Und die Schreie.
»Ihr habt gute Arbeit in Hestria geleistet, Herr Hauptmann.« Ruhndors Tonfall war so trocken und hart wie immer, aber Dorello kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass hinter den Worten aufrichtige Anerkennung steckte. Er verneigte sich.
»Ich danke Euch, General.«
Der alte Mann erhob sich mit steifen Gelenken. Er kam von seinem Podest herab und die Spitze seines Gehstocks machte klack-klack-klack auf dem Eisenstufen. »Ich werde mich hinlegen. Weckt mich, bevor wir unser Ziel erreichen.«
»Zu Befehl.« Eine der Wachen vor dem Quartier des Generals hatte Dorello verraten, dass Ruhndor in letzter Zeit vermehrt unter Albträumen litt und im Schlaf die Namen seiner Frau und seiner Töchter rief. Je näher sie der Insel kamen, desto fester schien ihn die Vergangenheit zu umklammern.
»Die Brücke gehört Euch, Herr Hauptman«, sagte Ruhndor.
»Ich danke Euch, General.« Dorello salutierte, genau wie der Steuermann und der Maat. Gemeinsam verfolgten sie, wie der General – klack-klack-klack – die Brücke verließ und sich die Tür zischend hinter ihm schloss.
Nach all den Jahren hatte Dorello immer noch höchsten Respekt vor dem alten Mann. Und in Momenten wie diesen wünschte er sich, er hätte sich den Glauben an Ruhndors Mission bewahren können.
Irgendwann gab Lian auf. Die Zellentür bestand aus massiven Eisen, wie fast alles auf diesem Schiff, und wies auf dieser Seite ihres Gefängnisses kein Schloss auf, das er hätte knacken können, selbst wenn er das Werkzeug dazu gehabt hätte. Mit einem unterdrückten Fluch trat er dagegen, woraufhin ihn eine Wache auf dem Gang anschnauzte, sich ruhig zu verhalten.
»Selbst wenn wir hier rauskommen sollten und eine Tür nach draußen finden, wir können dieses Schiff nicht verlassen«, flüsterte Kriss. »In dieser Tiefe würde uns der Druck der Wassermassen zerquetschen. Wir müssen warten, bis sie uns von Bord lassen.«
Ihr war genauso unwohl bei dem Gedanken wie ihm. Sie sah zu, wie er sich neben sie auf das Bett setzte.
Sie fuhren schon seit einer Weile. Es war Morgen gewesen, als man sie zum General geführt hatte, wenn man der Pendeluhr an der Wand glauben durfte. Nun war es später Nachmittag. Kriss wusste nicht, wie schnell die Morgenstern war. Aber sie hatte das Gefühl, dass die
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