Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
aller Formen und Größen. Die Abendsonne neigte sich wie ein brennender Rubin dem Horizont zu und goss Feuer über den Himmel.
Kriss hörte das Knirschen von Stein und das Ächzen von Metall, als das Schiff auf dem Boden aufsetzte. Das Singen der Antriebe verstummte. Sie glaubte, das Herz sprengte ihr jeden Moment die Brust. Sie drückte sich die Nase fast am Bullauge platt, aber sie entdeckte weit und breit kein Zeichen von Zivilisation. Und auch keine Windrose . Verzweiflung griff nach ihr.
»Vielleicht sind sie woanders gelandet«, sagte Lian. »Vielleicht verstecken sich Branskers Leute hier irgendwo und warten auf uns ...«
Kriss wünschte, sie hätte daran glauben können.
Die Eisentür schwang quietschend auf. Die hartgesichtige Frau mit dem Zopf stand dort, eine doppelläufige Pistole in der Hand. Ein glatzköpfiger Mann, dessen Nase aussah, als wäre sie wenigstens dreimal gebrochen, drohte neben ihr mit gleicher Waffe.
»Mitkommen.« Die Frau deutete mit dem Kinn den Gang hinab. Sie und die andere Graujacke ließen ihre Gefangenen vorausgehen. Kriss spürte die doppelte Mündung der Pistole hart in ihrem Rücken.
Eine Panzertür führte nach draußen. Der General und sein Adjutant erwarteten sie am Fuße einer Gangway.
Die Spitze von Ruhndors Gehstock bohrte sich in die rötliche Erde. »Ich hoffe um Euretwillen, dass wir finden, was wir suchen, Doktor.« Seine Augenprothese fixierte Kriss.
Sie sagte nichts. Die Luft im Schiff hatte verbraucht und nach Eisen geschmeckt und sie genoss für einen Moment den Duft von Meer und trockenem Gras. Zirper und Brummgrillen musizierten in den Büschen; sie waren selbst über das Brüllen des Wasserfalls zu hören, während Kriss so unauffällig wie möglich den Himmel absuchte. Ihre Schultern sanken herab. Keine Spur von der Windrose .
Sie sah zu Lian. Er nickte. Ihnen beiden war klar, dass sie improvisieren mussten.
»Nun, Doktor?«
Kriss spürte den Blick des Generals an ihrem Hinterkopf. »Wir suchen das Haus des Schläfers«, sagte sie und erinnerte sich an Veribas’ Vers.
»Und was genau ist das?«
Kriss sah den General ernst an. »Das weiß ich nicht. Noch nicht. Ich werde es erkennen, wenn wir es sehen. Wie das Baumhaus im Smaragdwald.«
Sie sondierte die Gegend. Hier hatte nichts auch nur annähernd Ähnlichkeit mit einem Haus (oder einem Schläfer). »Versuchen wir es dort!«, sagte sie so selbstsicher wie möglich und zeigte auf eine Ansammlung von Findlingen weiter in Richtung Klippen. Sprüh vom Wasserfall wehte ihr ins Gesicht.
Niemand folgte ihr. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass die Frau mit dem Zopf und der glatzköpfige Mann sich links und rechts von Lian aufgestellt hatten und auf ihn zielten. Er wagte es nicht, sich zu bewegen.
»Nur damit Ihr nicht auf falsche Gedanken kommt«, sagte der General.
Kriss schluckte mit staubtrockener Kehle.
Geh schon , sagten Lian Lippen stumm. Halt sie hin!
Kriss nickte kaum merklich und ging auf die Findlinge zu. Ruhndor und Dorello folgten ihr mit einigem Abstand. Lian wurde von seinen Wächtern hinterhergeschubst. Die Morgenstern blieb hinter ihnen zurück wie ein gestrandetes Seeungeheuer aus Metall.
Mit einiger Mühe erklomm Kriss den ersten Findling, einen hüfthohen grauen Felsbrocken. Von hier aus überschaute sie die anderen Steine, die Palmen und den Fluss – und die steil bergab gehenden Klippen. Es war merklich dunkler geworden, die Sonne schon halb hinter den Horizont getaucht. Und immer noch kein Schiff in Sicht. Kommt schon, Kapitän!
»Hier ist nichts!«, rief sie dem General und seinem Adjutanten zu. Unter ihren wachsamen Blicken hüpfte sie von dem Findling und marschierte zum nächstgrößeren Stein.
Was sollte sie ihnen erzählen? Dass die Steine vielleicht in irgendeiner bedeutsamen Weise angeordnet waren? Dass man unter ihnen graben musste, um etwas zu finden? Zeit – sie brauchte mehr Zeit!
»Wir warten, Doktor.«
Kriss konnte ihr Glück kaum fassen, als die Lösung direkt vor ihren Augen lag.
»Hier ist etwas!«, rief sie. »Schriftzeichen!«
Der General und Dorello kamen näher. Lians Wächter sorgten davor, dass er ihnen folgte.
Es waren tatsächlich Schriftzeichen! Kriss’ Finger fuhren die Einkerbungen im Stein entlang. Jemand hatte sie in den Fels geritzt – möglicherweise Reisende, die hier Rast gemacht hatten. Wahrscheinlich bedeuteten die Worte nichts als »Ich war hier« oder »Soundso liebt Den-und-den« – Dummheiten, die Leute irgendwo
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