Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
Bransker auf die Brücke rannte, hinterließen Kriss’ Kleidung und ihr Haar eine nasse Spur auf dem Schiffsboden. Lian setzte ihr nach.
»Doktor«, brummte der Kapitän erfreut. Er steckte sich gerade seine Pfeife an. »Sind gerade noch rechtzeitig gekommen, was?«
»Genau wie verabredet«, fügte Lian hinzu. Kriss sah den Kapitän ernst nicken. »Wie verabredet.«
Sie entschied, dass sie sich auch später noch über Branskers seltsamen Tonfall wundern konnte. »Kapitän, wir haben keine Zeit! Ruhndors Männer können jederzeit starten!«
Er hob die buschigen Augenbrauen. »Welcher Kurs?«
Im Kartenraum ließ sich Kriss Stift, Lineal und Kompass geben. In ihre Decke eingehüllt und auf den Boden tröpfelnd, legte sie mit vor Erschöpfung zitternden Händen das Lineal an Hestria an. Genauer gesagt an der Westküste des Stadtstaates, wo einst die Statue von Ollon Monda aufs Meer hinaus geblickt hatte. Sie schloss kurz die Augen ...
»Weißt du noch die Richtung?«, fragte Lian besorgt.
»Ja«, sagte sie selbstsicher. Ja, sie erinnerte sich. »Nord-Nordwest!«
Sie überprüfte die Windrose des Kompasses, legte das Lineal in den richtigen Winkel – und zog vorsichtig einen Strich an der Holzleiste entlang. Der Stift fuhr dabei über Meer und Meer und noch mehr Meer.
Es gab nur eine einzige Stelle, an der er Land schnitt.
»Hier ist es!« Kriss tippte auf eine Landspitze im Norden von Ulgrai, dem Kontinent des Westens, mit seinen Savannen, Buschwäldern und dem gletscherbedeckten Oukara-Gebirge im Zentrum. »Das Kap der bösen Vorahnung!«
»Kurs setzen auf Nord-Ulgrai!«, bellte der Kapitän durch die offene Tür den Steuermännern zu. »Alle Maschinen volle Kraft!«
»Aye, Aye!«, ertönte es von der Brücke.
Kriss spürte, wie das Schiff die Richtung wechselte. Auf einmal überkam sie ein ungutes Gefühl. »Kapitän ... vielleicht ist es klüger, erst einmal einem anderen Kurs zu fliegen.«
»Hrm?«
»Selbst wenn die Morgenstern – das Schiff des Generals noch nicht gestartet ist, werden uns seine Männer im Auge behalten, solange sie können, und unseren Kurs verfolgen! Wir würden ihnen nur verraten, wo wir hinwollen!«
Bransker rieb sich die Nase. »Gut gedacht, Doktor!« Gerade als er den Steuermännern neue Anweisungen gab, trat Nesko, der flachshaarige junge Matrose ein. Er brachte zwei dampfende Becher. »Hier«, sagte er freundlich-schüchtern zu Kriss und Lian. »Beugt Erkältungen vor!«
»Danke!« Kriss ließ sich eine Tasse geben und nahm einen großen Schluck – sie bereute es sofort. Die Luftfahrer sahen erheitert zu, wie sie einige Zeit mit tränenden Augen vor sich hinröchelte. Lian hingegen leerte seinen Becher in einem Zug, ohne sich zu schütteln oder das Gesicht zu verziehen.
»Was ... hhhhh ... ist ... da ... hhhhh ... drin?«
»Ein bisschen Wollbockmilch, Zinnoberkraut, Feuerkümmel, Pampelsinensaft – und jede Menge Glasbeerenschnaps.«
Kriss spürte, wie die Hitze des Gebräus ihre Kehle hinab rann, als habe sie kochende Lava geschluckt.
»Jetzt ruht Euch aus«, sagte Bransker, »bevor Ihr das ganze Schiff nass macht!«
Kriss nickte. Sie hatte ohnehin nichts anderes vorgehabt. Sie fühlte sich wie gerädert, jeder Muskel tat ihr weh. Aber an Schlaf war nicht zu denken, dafür war sie zu aufgekratzt.
Auf dem Gang war ein Matrose gerade damit beschäftigt, den Boden aufzuwischen. Er seufzte, als Kriss ihn passierte, eine neue, nasse Spur hinter sich herziehend. Lian holte sie nach ein paar Schritten ein. Sein feuchtes Haar glänzte wie heißer Teer.
»Kriss, warte! Wohin gehst du?«
»Sehr, sehr heiß baden«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen.
»Kriss ...«, setzte er an.
»Lian?«, fragte sie kühl.
Er hielt ihre Schulter, zwang sie stehenzubleiben. »Lass uns drüber reden«, sagte er leise, als fürchte er, dass der Matrose mit dem Wischmopp sie hören könnte.
Sie blickte zu ihm auf. »Worüber?«
»Du weißt schon.« Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
Sie zuckte mit den Achseln. »Was gibt es noch zu bereden? Es ist doch alles klar.«
Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, ließ sie ihn stehen.
Im Waschraum des Schiffs ließ sie heißes Wasser in die Zinkwanne laufen. Als sie hineinstieg und Dampfschwaden sie einhüllten, wich auch der letzte Rest Kälte aus ihr.
Obwohl sie sich dagegen wehrte, ging ihr Lian nicht aus dem Sinn. Wie verletzt er sie eben angesehen hatte ... Sie zweifelte nicht daran, dass es ihm leid
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