Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
tat, und sie war froh, dass er alles heil überstanden hatte, so wie sie selbst.
Aber sie war nicht bereit, ihm zu verzeihen. Nicht jetzt.
Kriss schloss die Augen und fühlte wieder die Pistole in ihrer Hand, schwer und hart. Der Schuss, den sie abgefeuert hatte, dröhnte noch in ihren Ohren. Sie hoffte, nie mehr in ihrem Leben eine Waffe anfassen zu müssen.
Sie glaubte nicht daran, dass Ruhndor ertrunken war. Ob die Morgenstern schon die Verfolgung aufgenommen hatte – unter Wasser, unsichtbar? Seit sie an Bord der Windrose gekommen war, hatte sie halb erwartet, jeden Moment einen Warnruf der Matrosen zu hören. Sie versuchte, nicht an den General zu denken, aber wie die Erinnerung an Lians Blick suchte auch er sie heim.
Als sie aus der Wanne gestiegen war, wischte sie den Wasserdampf vom Spiegel und betrachtete ihr Gesicht: die vollen Wangen, das runde Kinn, die ernsten, braunen Augen, das Haar, das ihr in schwarzen Strähnen am Kopf klebte.
Sie hatte sich nie zuvor Gedanken über ihr Aussehen gemacht. Wie sie auf andere wirkte. Auf Jungen. Sie wusste nicht, ob ihr das Mädchen, das ihr entgegensah, gefiel ...
Kriss schüttelte den Kopf. Sie trocknete sich ab und eilte, nur in ein Handtuch gehüllt, durch den Gang, bevor einer der Matrosen sie sah.
In ihrer Kabine angekommen, sah sie die Sterne durch das Bullauge funkeln. Sie griff in der Dunkelheit nach den Schwefelhölzern und entzündete das Gaslicht. Sie zog frische Kleidung aus dem Koffer, setzte ihre Zweitbrille auf die Nase – und auf einmal umklammerte sie ein Gefühl von Verlorenheit. Ohne Umi, ohne jemanden, mit dem sie über das reden konnte, was in ihr vorging, kam sie sich unendlich einsam vor. Verlassen. Im Stich gelassen. Alles war einfacher gewesen, bevor sie Lian getroffen hatte.
Sie versuchte, sich mit einem dritten Brief an Alrik abzulenken.
Hatte sie den General zuvor unerwähnt gelassen, aus Angst, Alrik könne vor Sorge umkommen, entschuldigte sie sich nun dafür und berichtete ihm alles , was sie ihm bisher verschwiegen hatte: das Auftauchen des Mannes ohne Gesicht im Haus der Baronin, die Begegnung mit Dorello und dem General in der Großen Bibliothek, die Jagd durch die Straßen von Dschakura. Dann fuhr sie fort mit ihrer Befreiung aus dem Gefängnisturm durch die Mannschaft der Morgenstern und der Rettungsaktion der Windrose .
Falls ihnen etwas zustieß, dann sollte Alrik wissen, dass wahrscheinlich der totgeglaubte General seine Hände im Spiel hatte. Sie bat ihren Mentor, Seine Majestät zu informieren, dass Ruhndor am Leben und ihnen auf den Fersen war. Vielleicht konnte jemand den Mann hinter Gitter bringen, bevor sie ihm ein weiteres Mal begegneten. Aber eigentlich glaubte sie nicht wirklich daran. Wer wusste schon, wie lange der General in der Morgenstern auf dem Grund des Meeres ausharren konnte? Und wer konnte sagen, wo er das nächste Mal auftauchen würde?
Sie tunkte die Feder ins Tintenfass und fuhr fort.
Letzte Nacht habe ich wieder von Bria geträumt. Es war kein angenehmer Traum.
Sie und die anderen Forscher waren in Hestria gewesen, kurz vor ihrem Verschwinden. Aber der letzte Brief, den wir damals von Bria bekommen haben, war aus Kelifreh abgeschickt worden. Sind sie anschließend nach Hestria geflogen? Aber warum hat sie uns nichts davon gesagt? Hat vielleicht die hestrianische Geheimpolizei ihre Post abgefangen?
Ich bin ganz sicher, dass sie es geschafft haben, aus dem Fürstentum zu entkommen. Nur, wohin sind sie danach gegangen? Oder haben die Hestrianer sie doch noch gefangen? Aus irgendeinem Grund habe ich bislang immer gedacht, wenn wir Dalahan finden, finden wir auch Bria. Aber vielleicht ist es dumm, davon auszugehen. Die Welt ist so groß. Auf ihrem Weg zur Insel kann alles Mögliche passiert sein.
Aber vielleicht, so unwahrscheinlich es auch sein mag, ist sie wirklich dort, gestrandet, und wartet auf mich.
Sie fehlt mir, Alrik. Ihr beide fehlt mir, von Tag zu Tag mehr. Aber ich werde jetzt nicht aufgeben. Ich muss wissen, dass es ihr gut geht. Dalahan ist nicht mehr weit; es gilt nur noch einen letzten Hinweis zu finden und zu entschlüsseln, dann steht uns der Weg dahin offen.
Hoffentlich.
Mit bleischweren Lidern brachte sie noch ein » Liebe Grüße, Kriss « zu Papier. Dann legte sie die Feder beiseite und schloss das Tintenfass. Sie rieb sich die Augen und gähnte so heftig, dass es ihr fast den Kiefer ausrenkte. Ihr Blick fiel auf das Döschen mit den Indigopastillen. Erst
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