Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
jetzt fiel ihr auf, dass sie die Pillen schon lange nicht mehr gebraucht hatte.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, schien ein Schmiedehammer in ihrem Kopf zu wüten.
Ihr Hals kratzte wie ein Säbelkaktus, ihre Nasenschleimhäute fühlten sich wund und ausgetrocknet an. Kriss berührte ihre Stirn. Sie schien förmlich zu glühen, dabei war ihr kalt, unsagbar kalt und ihre Gedanken waren schwer. Wenn sie sich nicht die Seele aus dem Leib hustete, dann plagten sie Niesanfälle. Von wegen, ›beugt Erkältungen vor‹ ...
Es gab keinen Arzt an Bord. Entweder hatte die Baronin auf die Schnelle keinen für ihre Expedition anheuern können – oder sie hatte am falschen Ende gespart. Ein Matrose hatte während des Großen Feuers einem Feldarzt assistiert und dabei ein wenig von ihm gelernt, wobei die Betonung auf »wenig« lag. Er konnte auch nicht mehr tun, als ihr ein Thermometer unter die Achsel zu klemmen, festzustellen, dass sie Fieber hatte (als wäre sie nicht allein darauf gekommen!), und ihr letztlich nur raten, sich gut zuzudecken, reichlich Wasser zu trinken – und weiterhin das Glasbeerenschnaps-Gebräu zu schlucken.
Unter der Decke gleichzeitig fröstelnd und schwitzend, brachte Kriss über den Tag verteilt drei Becher von dem Zeug herunter. Der Alkohol machte sie zuerst leicht im Kopf – und danach nur noch schwermütiger.
Sie würden Dalahan nie erreichen, das war ihr jetzt klar. Vorher platzte die Ballonhülle der Windrose . Oder ein Blitz ließ das Schiff in Flammen aufgehen. Oder der General holte sie ein und schoss sie ab. So oder so, sie wusste, dass sie auf der Suche nach der Insel sterben würde. Genau wie ihre Mutter zuvor.
Aber wahrscheinlich würde sie vorher im Fieber verbrennen.
Manchmal glaubte sie zu hören, wie Lian vor ihrer Tür herumschlich. Doch wenn er es wirklich war, klopfte er nicht an und Kriss wünschte sich einmal mehr, die eine Frage niemals gestellt zu haben; wünschte sich, er hätte nie etwas gesagt, das sie auf die absurde Idee gebracht hatte, sie könnten etwas anderes als Freunde sein ...
Zum ersten Mal musste sie sich eingestehen, dass sie vieles über Archäologie wusste – über die Einbalsamierungsriten der alten Hierokraten von Talikor, welche Währung man zur Zeit der dritten Dynastie in Ramakhan benutzt hatte, oder wie man ruminosanische Elfenbeinschnitzereien datierte –, aber wenig bis gar nichts über Jungen. Schon gar nicht solche wie Lian.
Hatte sie ernsthaft geglaubt, er könnte sich für sie interessieren? Sie hätte darüber gelacht, wäre es nicht so traurig gewesen. Wenn diese Expedition vorbei war, würden sie wieder getrennte Wege gehen; in ein oder zwei Monaten würde er sie schon vergessen haben. Der Gedanke tat ihr weh.
Und sie wollte sich nicht weh tun lassen.
Sie dachte daran, zu ihm zu gehen und ihm zu gestehen, dass sie sich beinahe in ihn verliebt hätte – aber das dies nur eine vorübergehende Verrücktheit von ihr gewesen war, eine Schwärmerei, nichts weiter, und vor allem endgültig vorbei.
Irgendwann am Abend überraschte Kapitän Bransker sie mit einem Besuch.
»Kopf hoch, Doktor. Gibt Schlimmeres als eine Erkältung.« Er setzte sich zu ihr und betrachtete seine im Schoß zusammengelegten Hände. Seine Stimme war ungewohnt sanft. »Weiß, wovon ich rede. Meine Frau leidet an Knochenfrost. Harmloser Name, aber eine entsetzliche Sache. Sie kann nur daliegen und zittern. Ist kalt wie ein Eiszapfen. Gibt keine Heilung, wisst Ihr? Nur Medikamente, damit es nicht noch schlimmer wird. Aber die sind teuer.«
Kriss bekam ein schlechtes Gewissen. »Das tut mir leid ...«
»Muss es nicht. Die Baronin zahlt für ihre Medizin – auch, falls ich von dieser Expedition nicht ...« Er ließ den Satz unvollendet. »Eine Heilige, die Frau. Selten heutzutage. Wirklich selten.« Der Kapitän erhob sich. »Die Pflicht ruft. Wie gesagt, gibt Schlimmeres als eine Erkältung. Trotzdem gute Besserung, Doktor!«
Er tätschelte ihr die Schulter und ging.
Vor dem Schlafengehen brachte Nesko ihr noch einen letzten Trunk. Kriss musste sich überwinden, das Gebräu herunterzukriegen.
»Herr Berris lässt Euch gute Besserung ausrichten«, sagte der junge Matrose.
Kriss zog die Bettdecke bis unter ihre laufende Nase. »Ist er ...«, begann sie und wurde von einem weiteren Hustenanfall unterbrochen. »Ist er wenigstens auch so gebeutelt wie ich?«
Nesko lächelte scheu. »Nein. Er ist kerngesund!«
Kriss grummelte etwas Unfeines.
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