Der Schatz des Blutes
ihm, und eine Hand packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn. Er öffnete die Augen und sah sich einem dunklen, blitzenden Augenpaar gegenüber, dessen Weiß im Schatten verblüffend leuchtete. Wahrscheinlich war es der Fremde, der den konischen Helm getragen hatte. Doch im Halbdunkel war das mit Gewissheit nicht auszumachen. Bis er seine Gedanken gesammelt hatte, saß der Mann schon wieder auf der anderen Seite des Feuers, mit dem Rücken an einen Kamelsattel gelehnt. Er hatte einen Ellbogen auf sein angewinkeltes Knie gestützt und hielt einen kurzen Krummdolch zwischen Daumen und Zeigefinger. In der anderen Hand, die neben ihm auf dem Boden ruhte, hielt er ein Paar schmale, rostig-braune Handschellen.
»Ich besitze Ferenghi zunge nicht, Sanglahr. Du hast meine?«
Es war eindeutig Französisch, und Ferenghi – eine arabische Version von Fränkisch – war der Begriff, den die Wüstenbewohner für alles benutzten, was mit den Christenkriegern zu tun hatte, die ihr Land besetzt hielten. Einige Sekunden lang saß St. Clair blinzelnd da und versuchte, sich einen Reim auf das Gehörte zu machen. Dann begriff er, und er antwortete achselzuckend auf Arabisch.
»Ein wenig. Ich bin noch nicht lange hier. Ich spreche nicht oft genug mit Euren Leuten, um die Sprache zu lernen.«
Der Mann mit dem Raubvogelgesicht nickte, und sein Kettennetz klirrte leise, als sich sein Helm bewegte.
»Ihr sprecht meine Zunge besser als ich die Eure, also bleiben wir dabei. Wie lange sind Eure Beine schon so gefesselt?«
St. Clair blickte an seinen Beinen entlang und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Mehrere Tage.«
»Ich muss die Fesseln durchschneiden. Was dann kommt, wird sehr schmerzhaft sein. Aber wenn Gott es will, werdet Ihr Eure Beine wieder benutzen können. Bei Euren Armen ist es, glaube ich, nicht ganz so ernst. Haltet Euch bereit.«
Er erhob sich und trat erneut an St. Clairs Seite, dann bückte er sich und durchtrennte die Lederriemen, die die Beine des Ritters zusammenbanden, mit raschen Schnitten, bevor er wieder zu seinem Sitzplatz am Feuer zurückkehrte und ihn beobachtete.
St. Clair holte tief Luft. Nach der Warnung des Fremden rechnete er mit sofortigen Schmerzen, doch erst einmal geschah gar nichts. Ohne es zu verstehen, sah er, wie sich die Stirn des Fremden in immer tiefere Falten legte. Dann spürte er den ersten Stich, als das Blut und damit auch das Gefühl in seine tagelang abgeschnürten Beine zurückkehrte.
Der Schmerz begann überwältigend und steigerte sich ins Unerträgliche, bis er erneut das Bewusstsein verlor, wenn auch nur kurz. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich der Fremde nicht bewegt, und die Schmerzen in seinen Beinen ließen langsam nach. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen das Bedürfnis an, laut zu stöhnen.
»Versucht, sie zu bewegen. Zuerst die Knie.«
Zunächst hatte er den Eindruck, dass ihm seine Beine nie wieder gehorchen würden, denn ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, sie regten sich nicht, und er bekam es mit der Angst zu tun. Natürlich hatte er sterben wollen, als er Jerusalem verließ und in die Wüste ritt. Er war jedoch auf einen schnellen Tod aus gewesen, einen ehrenvollen Tod im Kampf gegen die Ungläubigen, zu denen auch sein Gegenüber zählte. An einen langsamen, qualvollen Tod als Gelähmter hatte er nicht gedacht.
»Hört lieber auf. Aufhören. Konzentriert Euch auf Eure Füße, Eure Zehen. Versucht, die Zehen zu krümmen, selbst wenn es nur ein wenig ist.«
Voller Angst und Schmerzen kniff St. Clair die Augen zu und konzentrierte sich ganz auf seinen rechten Fuß. Mit aller Kraft beschwor er seine Zehen, sich zu bewegen, doch er spürte nichts, und in seinem Magen rumorte die Verzweiflung.
»Da, seht Ihr? Jetzt noch einmal.«
»Noch einmal?«
Der Fremde sah ihn überrascht an.
»Bewegt sie noch einmal. Eure Zehen.«
»Meine Zehen haben sich bewegt? Seid Ihr sicher?«
»Natürlich bin ich sicher. Habt Ihr es denn nicht gesehen?«
»Ich hatte die Augen geschlossen.«
»Dann haltet sie diesmal offen und seht hin. Jetzt noch einmal.«
Seine Zehen bewegten sich, und kurz darauf bewegten sich auch die Zehen seines linken Fußes.
»Gut. Wenn die Zehen jetzt reagieren, werden es die Füße später ebenso tun. Es wird nur seine Zeit brauchen. Jetzt Eure Arme. Auch das wird schmerzen, aber vielleicht nicht so schlimm. Hier, trinkt zuerst etwas. Haben Euch diese Bestien etwas zu essen gegeben?«
St. Clair trank aus dem Becher,
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