Der Schatz des Blutes
sich Hassan größte Mühe gegeben, ihm die Unterschiede zwischen den Schiiten und den weitaus zahlreicheren Sunniten zu erklären und die Gründe für die Spaltung zwischen den beiden islamischen Fraktionen. St. Clair hatte seine Erklärungen zwar interessant gefunden, aber nicht übermäßig beeindruckend – bis er begriff, woher seine Reaktion rührte: Er ging davon aus, dass die Figur an der Spitze des Islam ein bloßer Mensch war, der Prophet Mohammed, wohingegen der Mann, der das Christentum anführte, der Sohn Gottes persönlich war. Kaum hatte er das begriffen, als ihm auch schon klar wurde, wie unlogisch und geradezu abergläubisch sein Gedankengang war. Er wusste schließlich, dass der Galiläer Jesus ebenfalls nicht mehr gewesen war als ein Mensch – ein außergewöhnlicher, vom Schicksal auserwählter Mensch, der jedoch bestenfalls ein Prophet gewesen war, genau wie Mohammed, der Mann aus Mekka, sechshundert Jahre später.
Was ihn jedoch am meisten überraschte, war die Tatsache, dass ihm dieser schwarz gekleidete Krieger mit dem exotischen Kettenpanzer, der eigentlich sein Todfeind hätte sein sollen, im Laufe weniger Tage ein besserer Freund geworden war als irgendjemand sonst, seit er seine Heimat verlassen hatte. Daher traf es ihn völlig unvorbereitet, als Hassan nun in Sichtweite der Türme von Jerusalem anhielt, ihn von seiner Verpflichtung entband, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, und ihn allein weiterschickte, während er selbst wieder in der Wüste verschwand. Auf St. Clairs Versuche, ihm zu widersprechen, reagierte er nur mit einem Lächeln und wies mit der Hand auf sich selbst.
Seht mich an , sagte die Geste laut und deutlich. Ich bin ein Wüstenkrieger , ein Sarazene . Wenn ich in die Stadt reiten würde , würde ich den Tag nicht überleben .
Dem hatte St. Clair nichts entgegenzusetzen, denn er selbst konnte Hassan kaum beschützen oder ihm garantieren, dass ihn nicht der erste Franke, der ihn sah, angreifen würde. Er selbst hätte ja noch vor wenigen Tagen sein Schwert gezogen und den Mann sofort angegriffen, verkörperte er doch die größte Bedrohung des Frankenreichs.
Also verabschiedeten sich die beiden Männer und gingen ihrer Wege; Hassan kehrte in die Wüste zurück, und St. Clair machte sich bußfertig auf den Weg zu seinen Brüdern auf dem Tempelberg.
Hassan hatte ihm während einer ihrer nächtlichen Unterhaltungen am Feuer klargemacht, wie dicht er daran gewesen war, seine Seele an den Dämon der Verzweiflung zu verlieren, der den Moslems genauso vertraut war wie den Christen. Nun, da er wusste, wie wenig ihn davon getrennt hatte, alles zu verlieren, was ihm wichtig war, war St. Clair bereit zurückzukehren, zu beichten und sich und den anderen seine Schwächen einzugestehen.
Das Einzige, was er jetzt bedauerte, war der Verlust seines neuen Freundes. Es hätte ihn bass erstaunt, wie oft er schon an Hassans dauerhafter Unterkunft in der Stadt vorbeigeschlendert war. Selbst wenn er den bescheidenen Pferdehändler Hassan zu Gesicht bekommen hätte, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dass er Hassan, dem edlen Schiitenkrieger gegenüberstand.
Diesmal sorgte sein Erscheinen in den Stallungen kaum für Aufsehen. Seine Brüder waren froh, ihn zu sehen, und sie machten kein Geheimnis daraus. Doch er war sich bewusst, dass sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan hatte. Sie waren eindeutig neugierig, was ihm zugestoßen war und wo er gewesen war, wussten aber genauso eindeutig nicht, was sie zu ihm sagen und wie sie mit ihm umgehen sollten. Niemand fragte ihn, wo seine Waffen geblieben waren, obwohl es ein ungeschriebenes Gesetz des Lebens in Outremer war, dass es für einen Unbewaffneten in der Wüste kein Überleben gab.
Zunächst amüsierte ihn ihre Unsicherheit, aber die Belustigung schlug schnell in Befangenheit um, und innerhalb kürzester Zeit sprach er mit niemandem mehr und schwieg nur noch trotzig vor sich hin.
Später am Abend seiner Rückkehr wurde er zu Hugh de Payens und Godfrey St. Omer gerufen. Als er den Archivraum an der Rückseite der Höhle betrat, erwarteten sie ihn mit ausdruckslosen Gesichtern. Die dann folgende Befragung war peinlich und einseitig, bis er begriff, dass es ein vages Gefühl der Scham war, das ihn dazu trieb, den Ordensoberen mit sturem Stolz und einer Arroganz zu begegnen, die durch nichts zu rechtfertigen war.
Die beiden Männer hatten nur sein Bestes im Sinn, daran hatte er keinen Zweifel. Sie waren weder kritische
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