Der Schatz des Blutes
geboren wurde? Sollen wir etwa glauben, dass Maria nach der unbefleckten Empfängnis der Fleischeslust verfallen ist? Und so haben wir uns alle irgendwann dieselben verstörenden Fragen gestellt: Wenn die Kirchendoktrin in solch entscheidenden Punkten im Irrtum ist – welche anderen ihrer Lehren mögen dann auch noch fragwürdig sein?«
Wieder ließ er den Blick über die Männer schweifen.
»Ihr alle kennt unsere Lehren, die auf unseren Annalen beruhen. Es war Paulus, der auch als Saulus bekannt ist, der die Wahrheit zu seinem eigenen Nutzen verfälscht hat, um den römischen Judenhassern seinen Glauben schmackhaft zu machen. Jesus wurde wegen seiner radikalen Überzeugungen festgenommen und hingerichtet. Die Kreuzigung war das Schicksal politischer Rebellen. Das Merkwürdige ist nur, Brüder, dass sein Tod nirgendwo großartige Reaktionen hervorgerufen hat. Er ist gestorben, und sein Bruder Jakobus hat die Führung der Urgemeinde übernommen. Erst als dieser Jahre später auf den Stufen des Herodestempels ermordet wurde, folgten öffentliche Unruhen. Sie führten dazu, dass der römische General Titus eine Armee nach Jerusalem führte, um es dem Erdboden gleichzumachen und den Tempel zu zerstören, weil er überzeugt war, nur so den Willen der Juden brechen zu können.«
De Montbards Augen leuchteten, als er nun auf die Rolle des Ordens zu sprechen kam.
»Sie haben sich geirrt. Sie haben zwar Jerusalem und den Tempel zerstört, aber die Mitglieder der Urgemeinde haben begriffen, dass das Ende nah war, und rechtzeitig ihre kostbarsten Dokumente – diesen Schatz – versteckt, bevor sie aus der Stadt geflohen sind. Sie haben genügend Schriften mitgenommen, um sicherzustellen, dass ihre Nachkommen eines Tages zurückkommen und ihre Geschichte fortsetzen könnten. Wir, meine Freunde, sind diese Nachkommen. Und wir haben diese Geschichte wiederentdeckt: Wie wir glauben, ist dies das gesamte Archiv der Urgemeinde, das Zeugnis ihrer Mitglieder, ihrer Glaubenssätze und ihres Kampfes um die Befreiung ihres Volkes aus der Tyrannei der Herodianer.«
St. Clair hatte reglos dagesessen und herzklopfend abgewartet, während sich de Montbard seine nächsten Worte zurechtlegte.
»Das ist es, was ihr ausgegraben habt, Brüder – die wahre Geschichte des Lebens und Todes Jesu, seiner Familie, seiner Freunde und ihrer Religion oder ihrer Überzeugungen. Alles, was uns jetzt noch zu tun bleibt, ist, diese Pergamente zu übersetzen. Das ist eine mühsame Aufgabe und eine beängstigende Verantwortung. Eure Arbeit hier ist fast getan, und während ihr euch wieder der Bewachung der Straßen von Outremer widmen könnt, fällt mir die Aufgabe zu, unsere Funde zu untersuchen – nicht, sie zu übersetzen. Ich besitze weder das nötige Können, noch habe ich die Zeit dazu. Sondern ich muss sicherstellen, dass unser Fund intakt ist und dass er über jeden Zweifel erhaben das ist, wofür wir ihn halten. Ich weiß, dass ich euch nicht an euren Eid – und an die Notwendigkeit – der Geheimhaltung erinnern muss. Aber ich hoffe, ihr verzeiht mir, wenn ich dies trotzdem erwähne. Seid von heute an noch vorsichtiger als bisher. Und nun danke ich euch im Namen aller Brüder des Ordens der Wiedergeburt. Ihr seid es, die diese Wiedergeburt bewerkstelligt habt.«
Nach diesen Worten löste sich die Zusammenkunft auf, und die Brüder unterhielten sich leise, während sie sich zerstreuten.
Nur St. Clair war allein davongegangen. Er war erfüllt von den Wundern der jüngsten Vergangenheit, und ihm wurde zumute, als hätte man ihm eine große Last von den Schultern genommen und als könnte er sich jetzt tragen lassen, wohin der Wind ihn wehte.
DAS WAR NUN FAST ZWEI MONATE her, und seitdem war de Montbard ungestört seiner Arbeit nachgegangen, während die anderen Brüder wieder verstärkt Patrouille ritten – bis de Payens gestern seine bevorstehende Rückkehr nach Frankreich angekündigt hatte.
Es war Jahrzehnte her, dass die Brüder ihre Heimat zuletzt gesehen hatten. Daher war die Wahl des dritten Reisenden mit großer Spannung erwartet worden. Das Los war sofort gezogen worden, und zum gutmütigen Leidwesen der anderen war es auf St. Clair gefallen.
Er hatte zunächst angenommen. Doch St. Clair hatte gemerkt, dass Gondemare, der stillste unter den Brüdern, tiefer enttäuscht gewesen war als die anderen, und sein Gewissen hatte ihn zu plagen begonnen. Gondemare war früh zum Witwer geworden und kurz nach dem Tod seiner Frau nach
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