Der Schatz des Blutes
Outremer gekommen. Er hatte mehrere Kinder gehabt, die er in der Obhut von Verwandten zurückgelassen hatte. Und vor einigen Jahren hatte ihn die Kunde erreicht, dass diese Kinder ihm Enkel geschenkt hatten.
St. Clair war mit dem Gedanken zu Bett gegangen, dass dies vielleicht Gondemares einzige Chance war, diese Enkelkinder kennenzulernen, und er hatte nicht mehr schlafen können.
Er selbst hatte keine Verwandten mehr in Anjou. Obwohl er gern dorthin zurückgekehrt wäre, hätte seine Reise einzig Ordenszwecken gedient – und diese konnte Gondemare genauso gut erfüllen wie er.
Zudem war er der einzige der Tempelbrüder, der all seine Gelübde gebrochen und sich damit eigentlich als unwürdig erwiesen hatte, seine Brüder auf dieser Reise zu vertreten.
So hatte St. Clair die ganze Nacht wachgelegen und war lange vor Tagesanbruch aufgestanden, um die Straßen zu durchwandern, während er mit seiner Entscheidung rang.
Schließlich hatte er voller Erleichterung beschlossen, seinen Platz an Gondemare abzutreten – und war dabei so in Gedanken versunken gewesen, dass er Odo niemals bemerkt hätte, wäre dieser nicht so hektisch losgespurtet, um ihm auszuweichen.
St. Clair spürte die plötzliche Bewegung mehr, als dass er sie sah – und bekam gerade noch mit, wie eine Männergestalt in einer Seitengasse verschwand. Sie kam ihm irgendwie vertraut vor.
Als er im Vorübergehen einen Blick in die Gasse warf, bog der Mann gerade um die nächste Ecke. Er zögerte, denn es drängte ihn, der Gestalt zu folgen. Doch dann ging er achselzuckend weiter.
Er war noch keine zehn Schritte weit gekommen, als er begriff, dass ihn die hastende Gestalt an den Privatsekretär des Patriarchen erinnerte, Bischof Odo von Fontainebleau. Er wusste, dass er sich irren musste. Der Mann, den er gesehen hatte, hatte schäbige Kleidung getragen, viel zu schäbig für einen Bischof. Doch dann erinnerte er sich an die Verschlagenheit, die er im Charakter des Bischofs wahrgenommen hatte, und er wurde neugierig. Er kehrte zur Mündung der Gasse zurück und spähte ein paar Sekunden in das Halbdunkel. Dann ging er langsam zu der Stelle, an der er die Gestalt hatte verschwinden sehen.
Doch dort gab es nichts zu sehen. Die Ecke war nur der Eingang einer Sackgasse, die an drei Seiten von hohen, nackten Wänden umgeben war. Also hatte der Mann sie nur betreten, um nicht erkannt zu werden. Noch neugieriger verließ St. Clair die Gasse wieder und beschleunigte seine Schritte, um dem rätselhaften Schatten zu folgen. Dabei wurde ihm bewusst, dass er sich auf feindlichem Territorium befand und dass die wenigen Menschen, die er sah – ausnahmslos Männer – ihn ausgesprochen feindselig anstarrten. Doch er ließ sich nicht beirren und rückte nur seinen Schwertgürtel so zurecht, dass er den Knauf besser fassen konnte, bevor er weiterging.
WEIT VOR IHM und durch mehrere Straßenbiegungen verborgen beglückwünschte sich Odo gerade dazu, dass es ihm gelungen war, nicht gesehen zu werden, als er auf einen kleinen, von Häusern umstandenen Platz trat, auf dem sich mehrere verdächtig aussehende Männer bei seinem Anblick aufrichteten, als hätten sie auf sein Erscheinen gewartet.
Er wusste natürlich, dass das nicht möglich war, und schluckte die plötzliche Angst hinunter. Er richtete sich zu voller Größe auf und ging erhobenen Kopfes weiter. In der Sekunde hörte er hinter sich ein Geräusch, und als er sich umdrehte, sah er, wie zwei Männer mit langen Krummdolchen auf ihn zukamen. Er unterdrückte einen erstickten Angstschrei und drehte sich um sich selbst. Dabei zählte er sechs Männer, die jetzt alle eine nackte Klinge in der Hand hatten und ihn im Abstand von mehreren Schritten umringten. Gerade machte er sich darauf gefasst, sie herauszufordern und ihnen zu sagen, wer er war, als er spürte, wie sein Herz und seine Seele in ihm dahinwelkten.
»Bischof.«
Das Wort wurde mit leiser Stimme gesprochen, doch es gab keinen Zweifel an seiner Bedeutung. Er drehte sich in Todesangst in die Richtung, aus der es gekommen war. Ein hochgewachsener, schlanker Mann, der von Kopf bis Fuß in die langen, wehenden Gewänder eines Wüstennomaden gehüllt war, schritt auf ihn zu. Von seinem Gesicht war nichts zu sehen außer den dunklen, reglosen Augen, die auf Odo gerichtet waren.
Zwei Schritte vor dem erstarrten Bischof blieb er stehen. Dann sprach er erneut, ein einzelnes, unverwechselbares Wort.
»Arouna.«
Bevor Odo überhaupt auf das Gehörte
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