Der Schatz des Blutes
hätte unerträgliche Erinnerungen in ihm geweckt. Er war jetzt ehrlich genug sich selbst gegenüber, um sich das einzugestehen. Er empfand keine Schuldgefühle mehr wegen der Dinge, die zwischen ihm und ihr geschehen waren. Sie hatte ihn schon monatelang nicht mehr im Schlaf heimgesucht, doch er war immer noch jung genug – und Manns genug –, um neugierig und verwundbar zu sein.
Besser, wenn der getreue Gondemare sie begleitete, unschuldig und ahnungslos.
Sobald sie die Reisenden aus dem Blick verloren hatten, wandte sich St. Omer an St. Clair.
»Ich wünsche dir eine erfolgreiche Patrouille, Bruder Stephen«, sagte er und hob die Hand zum Salut. St. Clair nickte als Erwiderung und wendete sein Pferd. Sein Blick suchte seinen Mitbefehlshaber, Montdidier, und den Führer der Sergeanten. Auf seine Handbewegung hin gab dieser seinem Pferd die Sporen und ritt zu den restlichen Mitgliedern der Patrouille, die sich auf seinen gebrüllten Befehl hin in Bewegung setzten.
»Auf ein Neues also«, murmelte Montdidier und lenkte sein Pferd so, dass er Knie an Knie mit St. Clair reiten konnte. »Schulter an Schulter gegen die Gottlosen, die Schwerter gezückt, zum Ruhme Gottes und zur Sicherheit der Pilger. Ich gestehe dir, Stephen, dass ich jetzt viel lieber nach Anjou unterwegs wäre als nach Jericho.«
»Ah, aber vergiss nicht, wie viel besser es dir in zehn Tagen gehen wird, wenn du gemütlich wieder hier in Jerusalem im Bett liegst und deine Flohbisse kratzt, während diese armen Wanderer sich auf See die Eingeweide aus dem Leib würgen. Dann haben wir hier das bessere Los gezogen, mein Freund.«
Montdidier ächzte.
»Vielleicht«, sagte er. »Aber noch haben wir nicht einmal das Stadttor hinter uns gelassen. Wir haben vieles vor uns, bevor wir heimkehren. Wenn wir heimkehren. St. Agnan hat gestern Abend etwas von neuen Räuberbanden zwischen Jerusalem und Jericho gesagt. Es sammeln sich zunehmend weiter Feinde, die Gräueltaten begehen, sagte er. Wobei ich nie weiß, wie er an dieses Wissen gelangt, und noch weniger, was er damit macht. Wenn man Archibald eine Tatsache erzählt, so habe ich das Gefühl, dass er sofort ein Evangelium daraus spinnt.«
St. Clair hätte darauf einiges zu erwidern gehabt, doch er kam nicht dazu, denn sie hatten das östliche Stadttor erreicht – diesmal hatten sie nämlich nicht das Südtor genommen, weil es durch den Aufbruch des königlichen Gefolges verstopft war. Er musste sich aber ganz auf den Durchmarsch seiner Männer konzentrieren. Sobald sie sich auf der Straße befanden, hatten er und Montdidier voll und ganz damit zu tun, die Aufgaben unter den Männern zu verteilen.
Erst sehr viel später, als ihre Späher unterwegs waren, um das Gelände vor ihnen zu erkunden, und sie sich langsam in die Routine fanden, die für die nächsten zehn Tage ihren Alltag bestimmen würde, kam er dazu, noch einmal auf das zurückzukommen, was Montdidier gesagt hatte. Zwar dachte er zunächst daran zu schweigen, um seinem Kameraden die Bestürzung zu ersparen, die er erlebt hatte. Schließlich jedoch entschied er sich dafür, sein Wissen mit ihm zu teilen.
»Ich hatte gestern Abend eine sehr interessante Unterhaltung mit Bruder Hugh.«
»Es überrascht mich, dass er inmitten der Vorbereitungen für seine Abreise Zeit dazu hatte. Worüber hat er denn gesprochen, und was war daran so interessant?«
»Über alles … den Schatz, die Dokumente, seine Rückkehr nach Frankreich und die Konsequenzen, die seine Enthüllungen für die Kirche haben werden. Hast du dir darüber schon Gedanken gemacht?«
Montdidier verdrehte sich träge im Sattel und grinste.
»Gedanken … du meinst über die Kirche? Ich? Also bitte, Bruder! Ich habe genug zu tun, und ich habe keine Zeit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was aus anderen religiösen Würdenträger wird – außerhalb unseres Ordens natürlich. Ich sehe lieber zu, dass ich meine Klingen für den Kampf gegen Allahs Lakaien schärfe, als meinen Verstand für Streitgespräche mit Gottes umnachteten Amtsbrüdern wachzuhalten.«
St. Clair nickte.
»So ging es mir auch, bis ich de Payens diese eine unschuldige Frage gestellt habe.«
Montdidier legte den Kopf schief.
»Und?«
»Und ich eine Antwort bekommen habe, mit der ich nicht gerechnet hatte. Innerhalb weniger Sekunden hat mir Bruder Hugh die Tiefen meiner eigenen Ahnungslosigkeit offenbart. Seitdem geht mir das Ganze nicht mehr aus dem Kopf.«
Montdidier hatte aufgehört zu lächeln.
Weitere Kostenlose Bücher