Der Schatz des Blutes
Gelegenheit bekämen, würden sie sich wieder genauso verhalten und Gottes Willen beschwören, während sie Frauen und Kinder abschlachten.«
»Das bezweifle ich, Hugh.«
»Du bezweifelst es?«
De Payens’ Stimme war leise, kaum mehr als ein wütendes Flüstern, und sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen.
»Wie kannst du daran zweifeln, Goff? Sieh dich doch um und hör zu, wenn diese Menschen davon sprechen, wer sie sind und wozu sie in Gottes heiligem Namen entschlossen sind. Ihretwegen ist mir das Wort christlich zuwider geworden. Seit unserer Ankunft habe ich hier wenig Christliches gesehen; es gibt keine Liebe, keine Duldsamkeit, keine Nachsicht und kein freies Denken unter den christlichen Armeen hier … Glaube mir, mein Freund, ich habe mich monatelang genau umgesehen, sowohl unter den führenden Adeligen als auch unter den Rittern und Waffenknechten. Ich habe nichts als Habgier und Lust gefunden. Alles, was ich gesehen habe, waren Männer, die dem Allmächtigen mit den Lippen Tribut zollen und Dankgebete ausspucken, während sie sich gleichzeitig mit den Händen an alles klammern, was sich stehlen lässt, und miteinander um die Macht kämpfen. All dies hier in dieser neuen Welt, die sie erschaffen sollten. Wir sind hierher gekommen, um Gottes Heilige Stadt zu befreien, Godfrey. Und wir Ordensmitglieder wollten Gottes Wahrheit finden, wie unsere Lehren es verheißen. Stattdessen haben wir Königreiche für uns selbst gegründet. Das Königreich Jerusalem, das Fürstentum Antiochia, die Grafschaft Edessa! Wir haben an den heiligsten Stätten der Welt ein Imperium für uns selbst errichtet, und es ist herzlich wenig von unserem Gott oder dem Christenjesus darin zu finden.«
De Payens verstummte, denn ihm wurde bewusst, dass ihn St. Omer mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
»Sag mir doch bitte, warum dich das überrascht«, bat ihn sein kranker Freund,
Hugh blinzelte ihn verblüfft an, dann zuckte er mit den Schultern.
»Das verstehe ich nicht. Warum sollte mich was überraschen?«
Sein Freund ließ sich durch seine verständnislose Reaktion nicht beeindrucken.
»Dass unsere christlichen Brüder nun einmal so sind, wie sie sind? Das dürfte dich doch nicht überraschen, Hugh. Du hast jahrelang die Mysterien unseres Ordens studiert. Hast du den Glauben an das Gelernte verloren?«
»Nein, das habe ich nicht«, antwortete Hugh gereizt. »Aber es hat kaum mehr etwas mit der Welt zu tun, in der wir heute leben. Die Riten, die ich studiert habe, waren für die meisten Sterblichen viel zu komplex und obskur. Sie hatten mit dem wirklichen Leben nichts zu tun, und das Schweigen des Ordens bestätigt mir das nur. Wir haben – ich habe mit Anweisungen gerechnet, mit Anleitung, was ich tun und wie ich vorgehen soll. Stattdessen erfolgte Schweigen.«
»Seltsam, aber ich hatte während der letzten fünf oder mehr Jahre genau den umgekehrten Eindruck.«
St. Omer schüttelte sanft den Kopf und lächelte seinem Freund zu.
»Während ich an dieses Ruder gekettet war, hatte ich den Eindruck, dass das, was uns der Orden in unserer Jugend darüber gelehrt hat, wie wir leben sollen und was wir von unseren gläubigen Christenbrüdern erwarten können, der Wahrheit näherkam als alles andere – der Wahrheit, die das Leben in unserer Welt bestimmt. Nun hat sich diese Welt verändert, Hugh, und das, wovor man uns gewarnt hat, ist geschehen.«
St. Omer hielt inne und richtete seine großen, eingesunkenen Augen auf seinen Freund.
»Wie lange ist es her, seit du zum letzten Mal mit unseren Ordensbrüdern in Verbindung gestanden hast?«
De Payens zuckte mit den Achseln.
»Viel zu lange, mindestens fünf Jahre … Aber ich bezweifle, dass sie versucht haben, mich zu erreichen, denn ich habe mich ja nicht versteckt. Ich ziehe es einfach nur vor, in Zurückgezogenheit zu leben.«
Er hob die Hand, um St. Omer am Reden zu hindern, bevor dieser einen Einwand äußern konnte.
»Ich weiß, wie das klingt, mein Freund, und ich gebe freimütig zu, dass es Menschen gibt, die mich für verrückt halten, aber das kümmert mich nicht.«
Er hielt kurz inne und überlegte, dann fuhr er fort.
»Aber es ist lange her, dass ich – abgesehen von dir – mit einem Bruder gesprochen habe. In der ersten Zeit nach meiner Ankunft hier bin ich manchmal anderen Brüdern begegnet. Bei diesen Begegnungen – die oft zufällig und ungeplant waren, obwohl ich stets Ausschau nach anderen Brüdern gehalten habe –, haben wir immer wieder
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