Der Schatz des Dschingis Khan
Jubel riss nicht ab. Jeder Reiter wurde stürmisch begrüßt, noch auf den letzten Metern angefeuert und am Ende so überschwänglich beglückwünscht, als wäre er der Sieger. Muriel entging nicht, dass die Pferde schweißnass und völlig erschöpft waren.
Die Letzten erreichten das Ziel mit hängendem Kopf und schleppendem Schritt. Angeschlagen stolperten sie mit letzter Kraft über die Ziellinie. Aber auch sie bekamen ihren Anteil an Anerkennung. Muriel sah, wie ein Mädchen, das fast als letzte das Ziel erreichte, überschwänglich begrüßt und umarmt wurde. Lachend wurde sie von den Umstehenden beglückwünscht. Man klopfte ihr anerkennend auf die Schulter und lobte ihre hervorragende Leistung. Verlierer schien es bei diesem Wettkampf nicht zu geben, auch wenn sich die meisten Reiter die Siegerehrung als Zuschauer ansehen mussten.
Die jubelnde Menschenmenge riss sie mit und drängte sie zum Ziel, wo sich die erschöpften Pferde und ihre Reiter aufhielten. Hier standen die Mongolen so dicht gedrängt, dass es kein Durchkommen gab. Muriel schaute sich um. Über die Köpfe der Umstehenden hinweg entdeckte sie Nara, die immer noch auf ihrem Pferd saß und strahlte, als hätte sie das Rennen gewonnen. Muriel wäre gerne zu ihr gegangen, um sie zu beglückwünschen, aber sie war zu weit weg.
Dann sah sie Baku. Von einer dicken Staubschicht bedeckt, saß er nicht weit entfernt auf seinem Pferd und berichtete seiner Familie mit wortreichen Gesten von dem Wettrennen. Amra, Venja und Thuy waren auch da. Wie gebannt lauschten sie den Worten ihres Bruders. Ihre Augen leuchteten vor Stolz. Muriel musste all ihr Geschick aufwenden, um zu ihm durchzukommen, dann gesellte sie sich zu ihnen.
»... aber dann ist mein Pferd gestolpert und die anderen sind an mir vorbeigezogen«, hörte sie Baku sagen. »Wenn dieses Erdloch nicht gewesen wäre, hätte ich das Rennen gewonnen.«
»Mach dir nichts draus, mein Sohn«, sagte Kubilay und gab Baku einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. »Du hast ein schnelles Pferd und wirst noch viele Rennen reiten. Früher oder später wird dir der verdiente Sieg ge...«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick schallte der durchdringende Ton mehrerer Bishgüür, wie die Mongolen ihre Trompeten nannten, über den Platz.
»Die Siegerehrung beginnt!« Amra wollte loslaufen, aber Kubilay hielt sie zurück. Muriel glaubte, einen Schatten über sein Gesicht huschen zu sehen, aber da er für ihr Empfinden immer sehr grimmig aussah, war sie sich dessen nicht sicher. »Das ist nicht das Zeichen für die Siegerehrung«, sagte er knapp. »Die Bishgüür rufen alle zum Kampfplatz der Ringer. Es muss etwas vorgefallen sein.«
Kaum hatte er das gesagt, kam Bewegung in die Mongolen. Und nur kurz darauf glich das Festgelände einem Ameisenhaufen. Alles strömte zum Platz der Ringer zurück. Zu Pferd oder zu Fuß, allein oder in kleinen Gruppen. Muriel entging nicht, dass die Stimmung umgeschlagen war. Die Menschen, die eben noch gelacht und gejubelt hatten, wirkten nun besorgt oder beunruhigt.
»Was ist passiert?«, richtete Muriel eine Frage an Sande-An, die neben ihr ging.
»Das wissen wir nicht.« Sande-An schüttelte den Kopf. »Aber ich bin sicher, wir werden es gleich erfahren.«
Als sie den Platz erreichten, war es dort schon so voll, dass sie kaum etwas erkennen konnten. Die Mongolen hatten sich in einem weiten Halbkreis um den Baldachin der Klanführer aufgestellt und standen so dicht beieinander, dass ein Durchkommen unmöglich war. »Ich kann nichts sehen!« Amra zupfte Sande-An an den Kleidern, worauf diese sie auf ihre Schultern setzte. Auch ihre Halbschwestern wurden von ihren Müttern auf die Schultern gehoben. Nur Muriel hatte niemanden …
»Steig auf! Dann kannst du besser sehen.« Baku reichte ihr seine Hand und half ihr auf sein Pferd. Er war etwas kleiner als sie, sodass sie über seine Schulter blicken konnte. Viel zu sehen gab es allerdings nicht. Nur ein Mongole stand einsam inmitten des Halbrunds, ließ den Blick über die Umstehenden schweifen und wartete.
»Was macht …?« Muriels Frage wurde von dem Klang der Bishgüür übertönt, die erneut eine Fanfare schmetterten. Augenblicklich wurde es still.
»Volk der Mongolen!«, erhob sich die Stimme des Redners über dem Platz. »Der Fürst der Taitschut ist der Ansicht, dass er ein besserer Bogenschütze ist als unser geliebter Großkhan, der sich seinerseits für den versierteren Schützen hält. Da sich die
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