Der Schatz des Störtebeker
Marie genannt wurde. Sie presste sich im Halbdunkel gegen die Wand, um ihn vorbeizulassen, allerdings an einer Stelle, wo ein mächtiger Schrank den ohnehin schmalen Gang noch mehr verengte. Er war gezwungen, sie zu streifen, und konnte auch nicht anders, als ihrem Brusttuch erneute Aufmerksamkeit zu schenken, denn wegen des engen Kontaktes drohte es noch mehr zu verrutschen. Wieder fiel sein Blick auf die seltsam geformte Brosche, die das Tuch zusammenhielt. Er bildete sich ein, das Schmuckstück stelle das Heck eines Schiffes dar. Er sah auch ein Kreuz.
Marie lachte. »Wir stecken fest, Herr«, sagte sie.
»Wie?«
Tatsächlich war es kaum möglich, an dieser Stelle aneinander vorbeizukommen. Sie rutschten hin und her, aber stets in die gleiche Richtung, sodass sie sich nicht voneinander lösen konnten.
»Marie!«, stieß Burchard milde empört hervor.
»Ach, was ist nur?«
Die Tür zum Gastraum wurde laut aufgestoßen, und die beiden schoben sich hastig auseinander. Marie verschwand hinter einer Tür, und Burchard musste sich an dem ziemlich betrunkenen Eckart vorbeidrücken. Eckart sah ihn gar nicht an, er taumelte schnaufend Richtung Abtritt.
Burchards Herz schlug heftig. Bei diesem engen Kontakt im Gang war ihm klar geworden, was ihn an Marie so faszinierte. Sie erinnerte ihn sehr deutlich an Antonia, nur dass sie, wie er soeben gespürt hatte, über noch üppigere Formen verfügte. War sie nicht schöner als jene missratene Antonia, die ihn verlassen hatte, die ihn in die Arme der Kirche getrieben hatte und von der er fast jede Nacht träumte? Liebreizender als Antonia, die einen anderen vorgezogen hatte, nachdem sie in ihm die Saat der Wollust gesät hatte?
Er verabschiedete sich hastig von Nicolai und Schwenk, die inzwischen von Bier zu Branntwein gewechselt hatten, und eilte die Stiege hinauf in den ersten Stock. Ihm war nicht gut. Das Bier war sauer gewesen, das Fleisch alt, das Brot schwer. Trotzdem hatte er zu viel gegessen.
Er schlug die Zimmertür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss um. Auf dem Tisch stand ein Leuchter, dessen Kerzen ein warmes Licht verbreiteten. Er kramte in seinem Koffer, den der Kutscher auf das Bett geworfen hatte, und fand das Kreuz. Er küsste den nackten, geschundenen Jesus heiß und innig, legte das Kreuz auf das Kopfkissen und machte sich daran, den Koffer vom Bett auf den Fußboden zu heben.
Dann zog er sich Frack, Weste und Hemd aus und wusch sich mit dem kalten Wasser so lange, bis er das Gefühl hatte, wirklich sauber zu sein. Er zog Schuhe, Strümpfe und Kniehose aus und kramte ein Nachthemd aus dem Koffer. Mit dem Kreuz in der Hand kniete er sich vor das Bett und betete. »Und führe mich nicht in Versuchung…« Er schlug sich mit der Hand gegen die Brust, dann mit der Faust. Immer wieder und wieder. Es tat nicht weh. Leider. Er stand auf, legte das Kreuz unter sein Kopfkissen, blies die Kerzen auf dem Tisch aus und legte sich ins Bett.
Mit dem festen Vorsatz, beim Einschlafen nur an Jesus und das Kreuz zu denken, wälzte er sich hin und her, heftig bemüht, das Bild der drallen Marie aus seinem Kopf zu bannen. Schließlich lag er auf dem Bauch, die rechte Hand unter dem Kopfkissen um das Kreuz gekrallt, und schlief ein. Es dauerte nicht lange, und er träumte: Er saß in einer Klosterzelle, der Fürstbischof trat ein, hob ihn an den Haaren, setzte ihn in eine Kutsche, und die Kutsche fiel um. Daraufhin erschienen seine drei Mitreisenden, hoben ihn auf ihre Schultern und warfen ihn in die Kutsche, in der sich eine Schlange ringelte. Die Kutsche fiel abermals um, die Schlange ringelte sich davon. Jesus erschien, an das Heck eines Schiffes genagelt, und er, Martin Burchard, war ein Raubvogel, der ihm mit seinem scharfen Schnabel die Leber herausriss, obwohl sie ihm nicht schmeckte. Er trank Bier, ganz allein an einem Tisch neben einem plätschernden Bach im Wald und hörte einer schönen Musik zu. Aus dem Bach stieg ein nacktes Mädchen mit langen strohblonden Haaren, die fast ihren ganzen Körper bedeckten, in der Hand ein Horn, auf dem es die Musik spielte. Es stellte das Horn vor ihn hin. Es spielte allein weiter. Er blickte hinein. Das Gefäß war randvoll mit einer giftgrünen, brodelnden Flüssigkeit. Er weigerte sich, davon zu trinken. Das Mädchen lachte, hob das Horn und trank es aus. Plötzlich sah es aus wie Antonia in der Kleidung der Gastwirtstochter. Sein Mund war voller Gift, die Backen waren gebläht. Es spuckte die Flüssigkeit
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