Der Schatz des Störtebeker
Nachtisch verschiedene Kuchen und Gebäck. Dazu tranken die Herren Burgunder-Rotwein.
Da sich herumgesprochen hatte, dass hoher Besuch in der Stadt war, bedeutende Abgesandte des neuen Herrschers sogar, hatten sich nicht wenige einflussreiche Persönlichkeiten im Gasthof eingefunden. Ein Sekretär des Bürgermeisters lud die Herren für den nächsten Tag ins Rathaus, diverse Honoratioren wollten den Zweck der Reise erkunden, andere Bürger witterten neue Handelschancen und versuchten, den Besuchern zu schmeicheln. Es lief darauf hinaus, dass die Delegation des Fürstbischofs auf dessen Kosten ein neues Fass Wein anstechen ließ.
Je turbulenter es zuging, umso melancholischer wurde Burchard. Nicht wenige der anwesenden Herren nahmen sich gegenüber Marie einiges heraus. Breite Hände tätschelten ihren Po, dicke Finger neckten sie an Kinn und Wangen und verirrten sich schon mal unter das Brusttuch, das im Laufe des Abends immer mehr verrutschte. Gelegentlich schlug sie lachend auf die Hand eines zudringlichen Gastes, aber insgesamt schien es ihr zu gefallen, wie die Männer mit ihr umgingen, die sie gelegentlich sogar an sich zogen, um ihr einen Kuss auf die rosigen Wangen zu drücken.
Burchard verabschiedete sich von seinen Begleitern, die seinen Abgang gar nicht richtig wahrnahmen, und lief mit unsicheren Schritten – man hatte ihn zum Austrinken mehrerer Becher des schweren Weins gezwungen – Richtung Treppe. Im Flur kam sie ihm entgegen. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf wallte. Sie lächelte ihn offenherzig und ganz arglos an.
»Oh, junger Herr, Ihr wollt schon gehen?«
Sie nestelte an ihrem Brusttuch. Wieder fiel ihm die Brosche auf. Sie lachte leise, als sie merkte, wohin sein Blick wanderte.
»Dieses Schmuckstück…« Er starrte nicht auf die Brosche, er starrte auf den Saum des Kleids, der auf der rechten Seite nach unten verrutscht war und nicht nur ihre zarte Alabasterhaut mit den Sommersprossen, sondern auch einen dunkelroten Halbkreis freigab. »Dieses Schmuckstück…«
»Oh.« Sie zog ihren Ausschnitt hoch, indem sie ihn zuerst nach vorn und dann nach oben zog. Nun hatte er alles gesehen, und es war um ihn geschehen. Mit zitternder Hand deutete er auf die Brosche.
»Ihr dürft sie berühren«, forderte sie ihn auf.
Er stieß mit dem Zeigefinger gegen das Schmuckstück, der Finger glitt ab und gab den Blick auf das Kreuz frei. Es erinnerte ihn an das Kruzifix unter seinem Kopfkissen. Er prallte zurück. Dann hastete er an ihr vorbei und lief die Treppe nach oben in sein Zimmer, verfolgt vom glockenhellen, spöttischen Lachen des Mädchens.
Im Zimmer stürzte er sich aufs Bett, riss das Kopfkissen hoch und fasste nach dem Kreuz. Jesus hatte kein Mitleid mit ihm, sah ihn nicht mal an, litt für sich selbst, nicht für ihn, blieb gleichgültig, weil ihm sein eigenes Leid offenbar wichtiger war als das eines armen, versuchten Sünders. Jesus starb für die Sünden von irgendjemandem, aber nicht für meine, dachte Burchard, während er das Kruzifix anstarrte. Er wartete auf ein Zeichen, aber es kam keins. Er zog sich aus und versuchte, sich zu beruhigen, indem er sich mit kaltem Wasser wusch. Dann ging er zu Bett.
Der Mond schien ihm ins Gesicht, und es dauerte lange, bis er einschlief. Wieder träumte er vom Horn. Es schwebte vor ihm her, und er ging einen unendlichen Gang entlang, auf der Suche nach der Wirtsstube, doch der Gang wollte gar kein Ende nehmen. Er stieg Treppen hinab und hinauf, nur um immer wieder in den gleichen Flur zu treten, der von einem Licht erhellt wurde, das von nirgendwo herzukommen schien, ein rötlich gelber Schein, leicht flackernd. Er streckte die Hand aus, um das Horn endlich fassen zu können, aber er schaffte es nicht. Er lief schneller, er kam näher, nun war es dicht vor ihm, und er bemerkte, dass die Verzierung sich verändert hatte. Statt einer Burg war dort eine fein gearbeitete Miniatur der Heiligen Stadt Jerusalem zu sehen, in allen Details, mit Menschen in langen Gewändern, die sich durch ein Gewirr orientalischer Gassen bewegten. Alle strömten auf einen Hügel zu, der sich aus lauter winzig kleinen Totenschädeln zu einem einzigen großen Totenschädel zusammenfügte, der Hügel von Golgatha, und oben drei Kreuze und Jesus, der vom Kreuz mitleidig auf ihn herabblickte und sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen verzerrte. »Oh Herr! Rette mich!«, rief Burchard ihm zu. »Rette dich selbst!«, entgegnete der Heiland, zog sich die Nägel aus
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