Der Schatz des Störtebeker
spielte sie ja das schluchzende Kind, damit er Gelegenheit fand, ihr nahe zu kommen.
Sie lagen nebeneinander im Gras. Waren sie allein? Kai Heinrich blickte sich um. Auf dem in einiger Entfernung liegenden Erdwall bemerkte er eine Gestalt. Jemanden, der offenbar in ihre Richtung blickte. Außerdem fiel ihm auf, dass sich der Himmel immer mehr mit dunkelgrauen Wolken bezog.
Er besänftigte sie und befreite sich aus ihrer Umarmung.
»Es ist besser, ich gehe sofort los.«
»Ach…«
Er deutete nach oben: »Es wird bald regnen.«
»Dann geh und beeil dich.«
»Ich trage dich dort drüben hin, unter den Baum, da bist du geschützt.«
Wieder nahm er sie auf den Rücken. Beinahe hätte er sich selbst den Fuß verstaucht, als er sie über die Wiese zur Baumgruppe am Rand des Walls schleppte.
Er setzte sie ab, gab ihr einen Kuss und lief wieder zu der Stelle, wo er seinen Ranzen und die Decke gelassen hatte. Die Decke brachte er ihr, den Ranzen schnallte er wieder auf. Sie schlang die Decke um sich und steckte sie über ihrer üppigen Brust mit der Brosche zusammen, die sie von ihrem Kleid gelöst hatte. Es war eine seltsame Brosche, offenbar der mittlere Teil eines größeren Ganzen, das einmal ein Schiff dargestellt hatte, auf dessen Bordwand ein Herz prangte.
»Siehst du, jetzt habe ich sogar einen richtigen Mantel.«
Noch ein Kuss, dann riss er sich los. Immer mehr schwarze Wolken näherten sich von Nordwesten. Er musste sich beeilen.
Er überquerte die Wiese, lief an einem Getreidefeld entlang und kam zu einem breiten Weg. Er wandte sich nach rechts und durchquerte den Bereich, der von dem Erdwall eingeschlossen wurde. Als er sich dem Ende des Walls näherte, glaubte er, wieder eine Gestalt hinter den Bäumen dort oben zu sehen. Wenn es die gleiche war, die er eben noch weiter hinten gesehen hatte, war sie ihm gefolgt. Nun aber wandte sie sich um und lief in die andere Richtung. Es war ein Mann, der ungewöhnlich groß und massig wirkte, ein Bauer vielleicht.
Während er zügig weitermarschierte, dachte Kai Heinrich darüber nach, was für ein Glückspilz er doch war. Der Zufall hatte ihn aus Hamburg in die Stadt im Norden verschlagen, was ihm zunächst gar nicht gefallen hatte. Aber dann stellte sich heraus, dass sich gegenüber dem kleinen Handelskontor, in dem er als Buchhalter tätig war, eine Bäckerei befand, in der ein dralles Mädchen namens Christine unter anderem Franzbrötchen verkaufte. Er war Hamburger, und Franzbrötchen waren seine Leibspeise. Jeden Tag kaufte er eins zum Frühstück und eins zum Nachmittagstee. Er ernährte sich während der Arbeitszeit nur von Franzbrötchen, was nicht zuletzt daran lag, dass die alte Dame, bei der er ein Zimmer bezogen hatte, ihm jeden Abend eine riesige, mit deftigem Eintopf gefüllte Terrine hinstellte und ihn nötigte, mindestens drei Teller davon zu essen. Viel mehr brauchte der Mensch nicht zum Leben.
Über das Franzbrötchen war Kai Heinrich mit Christine ins Gespräch gekommen. Sie fand es aufregend, wenn er ihr vom großen Hamburg erzählte. Er fand es aufregend, sie anzusehen. Nach und nach wurden sie vertrauter, trafen sich zum Spaziergang, auf Tanzfesten und einmal sogar in einem Cafe zu heißer Schokolade.
Den Ausflug zum Himmelfahrtstag hatten sie von langer Hand geplant. Es sollte eine Art Test sein, hatten sie sich vorgenommen. Sie wollten prüfen, wie gut sie miteinander auskamen, wenn sie von früh bis spät zusammen waren. Tatsächlich kamen sie so gut miteinander aus, dass die Wanderung fast nur aus Rasten im hohen Gras und weichen Moos bestand. Christine hatte ihren Eltern nur vage etwas von einer Wanderung mit einer Freundin angedeutet, aber am Abend, so war besprochen worden, wollte sie dem Bäcker und der Bäckerin den jungen Mann vorstellen, der um ihre Hand anhalten sollte.
Wegen der häufigen Unterbrechungen waren sie auf ihrer Wanderung kaum über ein Umrunden des Seitenarms der Förde nahe ihrer Heimatstadt hinausgekommen. Aber war nicht gerade dies der Sinn des Ausflugs gewesen? Kai Heinrich lächelte vor sich hin, als er den Erdwall hinaufstieg. Dann runzelte er die Stirn. Irgendwie hatte er sich vertan. Es war viel weiter bis zum Gasthof, als er gedacht hatte. Er war eben kein Einheimischer und konnte Entfernungen nicht gut einschätzen. Sie waren am Morgen am Wirtshaus nahe des Fördeufers vorbeigekommen, danach an einer uralten Kirche. Aber wo war diese Kirche jetzt? Zunächst einmal musste er über den Wall klettern,
Weitere Kostenlose Bücher