Der Schatz des Störtebeker
Grasbrookhafen, weshalb sie weiterfuhren und den Umweg über Brooktor und Dalmannkai in Kauf nahmen. Schließlich hielten sie neben dem Brachgelände, auf dem bis vor kurzem noch Lagerhallen gestanden hatten.
»Wo soll’s denn jetzt sein?«, fragte Kulbrod, nachdem sie ausgestiegen waren.
»Wir müssen da drüben hin.«
»Durch den Matsch?«, nörgelte Rümker.
»Das ist doch nur Geröll.«
Als sie am Becken des Grasbrookhafens angelangt waren und hinunter auf den Anleger blickten, stellte Discher fest: »Er ist nicht mehr da.«
Wären sie eine Stunde früher gekommen, hätten sie Link Walther und Bernhard Nissen noch beim Ablegemanöver zur Hand gehen können. So aber gab es nichts weiter zu sehen als graues Elbwasser, von Westen heranziehende dunkle Wolken und am anderen Ufer die glitzernden Stahltanks der Raffinerie, die die letzten Sonnenstrahlen reflektierten, bevor der Wind auffrischte und einen heftigen Schneeschauer übers Wasser peitschte.
1852
»Autsch, auch das noch!« Die junge Frau strauchelte und fiel ins Gras.
»Um Himmels Willen, Christine! Hast du dich verletzt?«
Kai Heinrich kniete sich neben sie und fasste nach ihrer Hand.
»Mein Knöchel!«
Sie strich mit der Hand über den rechten Fuß in der zierlichen Stiefelette und verzog das Gesicht.
»Ist es schlimm?«
»Ich weiß nicht.«
»Wenn es schlimm ist…«
»Hier tut es weh.«
»… trage ich dich…«
Sie lachte. »Du bist wirklich lieb, aber wie willst du mich so weit tragen?«
Er blickte unschlüssig in die Ferne. Sie hatte Recht. Zweifellos war sie um einiges schwerer als er. Unter ihrem weiß und blau karierten Reformkleid aus Baumwollmousseline zeichnete sich deutlich ihre üppige Figur ab. Sie waren eben über einen baumbewachsenen Hügel geklettert, der sich jetzt als weiter Erdwall entpuppte. Wie sollte er sie dort wieder hochkriegen?
»Bis zum Gasthof zurück ist es nicht weit. Ich kann ja von hier aus noch den Kirchturm sehen, und gleich dahinter…«
Sie versuchte aufzustehen, knickte aber sofort wieder mit einem Schmerzensschrei um, kaum dass sie den rechten Fuß aufgesetzt hatte. Sie schnürte die Stiefelette auf und betrachtete den Fuß.
»Er sieht ganz normal aus.«
Kai Heinrich blickte fasziniert auf den überraschend kleinen Fuß, der jetzt nur noch von dem hellen, feinen Stoff des Strumpfes verhüllt wurde.
Mit beiden Händen knetete sie ihren Fuß, dann schrie sie: »Au!«
»Ich muss dich wohl doch tragen«, stellte Kai Heinrich fest.
»Aber nein. Wir warten ein kleines Weilchen, bis es wieder gut ist.«
Nach einem kleinen Weilchen war der Fuß dick angeschwollen und passte nicht mehr in das Stiefelchen.
Tränen standen in Christines Augen.
»Kein Grund zu weinen«, versuchte er sie zu trösten. »Wir könnten ans Ufer gehen und den Fuß im Wasser kühlen.«
»Und du glaubst, das nützt etwas?«
»Aber ja.«
Er half ihr beim Aufstehen, setzte seinen Ranzen ab, auf den eine Wolldecke geschnallt war, und in dem sich ihr Proviant befand. Dann stellte er sich vor sie und forderte sie auf, die Arme um seinen Hals zu legen. Mit dem Kleid war es fast unmöglich, ihm auf den Rücken zu steigen. Irgendwie ging es doch, aber schon nach wenigen Schritten spürte er, dass sie ihm zu schwer war.
Keuchend schaffte er es, sie bis ans Ufer zu schleppen. Er ließ sie vorsichtig herunter, und sie setzte sich ins Gras. Schwer atmend lief er zurück, um seinen Ranzen zu holen. Währenddessen zog sie sich die Strümpfe aus. Als er wieder bei ihr angelangt war, schnallte er die Wolldecke ab. Er faltete sie sorgsam auseinander, damit sie sich darauf setzen konnte.
Das Wasser war kalt, aber der Fuß schwoll trotzdem immer mehr an. Er sah jetzt schrecklich unförmig aus. Christine jammerte. Kai Heinrich überlegte, ob er sie bis zum Gasthof tragen könnte. Unmöglich, entschied er, das ist nicht zu machen. Es war das erste Mal, dass ihm etwas an ihrem Körper missfiel.
»Ich werde ein Pferd holen oder so etwas. Irgendwie müssen wir hier fortkommen.« Er deutete in den Himmel: »Es würde mich nicht wundern, wenn dieser schöne Tag mit einem Gewitter endet.«
»Ich habe Angst vor Pferden.«
»Einen Esel.«
»Das ist doch das gleiche.«
»Einen Wagen. Sie werden doch wohl einen Pferdewagen haben oder einen Ochsenkarren.«
»Du willst mich mit einem Ochsenkarren nach Hause bringen?«
»Wenn es sein muss.«
»Ach, Kai Heinrich…« Sie brach in Tränen aus.
Er hatte nichts dagegen, sie zu trösten. Meist
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