Der Schatz des Störtebeker
wovon ich träume, mein Junge. Ich will diese Kultur wieder erstehen lassen. Nicht nur als Denkmal, sondern als Inspirationsquelle, ein Wallfahrtsort für die nordische Rasse! Natürlich geht das über meine Kräfte. Meine Zeit ist begrenzt. Ich brauche einen Erben, der die Sache in meinem Geist fortführt…«
»Wir sollten einmal in Ruhe darüber sprechen, Herr Geibel.«
Der Alte machte jetzt einen aufgeräumten Eindruck, als hätte sich eine lang gehegte Hoffnung erfüllt: »Ja, das sollten wir. Hier.« Er hielt ihm die geschlossene Hand hin. »Das hättest du beinahe verloren.« Er öffnete die Hand. Die Brosche.
Geibel warf ihm einen listigen Blick zu: »Ein kleines Schätzchen«, sagte er verschmitzt. »Recht wertvoll unter Umständen. Du weißt natürlich, um was es sich handelt?«
»Ah, nein. Christine hat es von ihrer Großmutter bekommen. Wer weiß, wo diese es her hatte. Ich verstehe gar nicht, warum sie so daran hängt. Es ist doch gar nicht komplett. Es ist ihr wohl nur deshalb wichtig, weil es ein Erbstück ist. Immerhin aus Silber.«
»Nein, komplett ist es nicht, das sieht man sofort. Es handelt sich ganz offensichtlich um einen Teil einer Hansekogge, die mit den Symbolen für Glaube, Liebe und Hoffnung geschmückt ist. Ich habe einmal etwas Ähnliches gesehen, während meiner Studienzeit in Spanien… es hatte irgendwas mit einem Heiligen zu tun. Vincentius, ja richtig, der heilige Vinzenz von Lerinus: ›Was überall, immer und von allen geglaubt wird‹, diesen Leitspruch hat er geprägt. Na ja, ein Christ… Für mich sind derartige Dinge nicht von großem Wert, aber der Papst würde dir viel Geld dafür geben…«
»Ich lasse es Ihnen, wenn Sie mich…«
»Nein, nein, wie gesagt, für mich hat es keinen Wert. Bitte, behalt es doch.«
Kai Heinrich nahm die Brosche in die Hand. Christines Brosche. Er starrte sie an, und wieder erschienen vor ihm die Umrisse dieses Unholds, der sich mit Christine über der Schulter davongemacht hatte.
Dann merkte er, dass sich etwas verändert hatte. Er horchte auf. Das Prasseln hatte aufgehört.
»Der Sturm ist vorbei.«
Geibel hob den Kopf. »In der Tat.«
»Wir müssen sofort los.«
Der alte Mann lächelte seinen Gefangenen fürsorglich an.
»Ich freue mich, dass ich endlich einen Verbündeten gefunden habe. Du wirst es nicht bereuen, mein Junge.«
»Ja, aber jetzt…«
»Ich verstehe deine Ungeduld. Ich werde dich zurückbringen. Aber zuerst«, er zog ein Tuch aus seiner Jackentasche hervor, »muss ich dir die Augen verbinden. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, kein Misstrauen. Du weißt doch dass ich dir vertraue?«
»Ja, ja.«
Der Alte verband ihm sorgfältig die Augen. Dann öffnete er das Erdloch und half Kai Heinrich beim Hinausklettern. Wegen des stechenden Schmerzes im Bein war es eine schwierige, schmerzhafte Prozedur. Auch das Einsteigen in die Schubkarre war eine Tortur, ganz abgesehen davon, dass er sich einfach lächerlich vorkam. Es regnete noch immer, aber nicht mehr stürmisch, sondern sanft und stetig.
Schwankend setzte sich die Schubkarre in Bewegung. Kai Heinrich hörte das Schnaufen des alten Mannes hinter sich. In der Hand hielt er die Brosche.
Nach einer Weile setzte Geibel die Karre ab und knüpfte den Knoten des Tuchs auf. Kai Heinrich sah, dass sie sich wieder in dem Wäldchen befanden, in dem Geibels überirdischer Unterstand war.
»Wenn wir erst mal Partner sind«, sagte Geibel, »braucht es diese Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr.«
Dann fasste er die Schubkarre und schob weiter. Mehrere Male blieben sie beinahe im Morast stecken. Der Waldboden war aufgeweicht, die Wege schlammig, überall standen tiefe Pfützen und überall lagen abgebrochene Äste herum und blockierten den Weg.
Kai Heinrich fühlte sich elend, einsam, hilflos. Was war nur mit Christine geschehen? Er würde alles dafür geben, wenn er nur sicher sein könnte, dass es ihr gut ging. Heute Morgen noch war er fest davon überzeugt gewesen, den Tag seines größten Glücks zu beginnen. Und alles war gut gegangen, bis sie plötzlich gestrauchelt war… Eine kleine, zufällige Ungeschicklichkeit, und nun saß er hier, ein Häufchen Elend, um ihn herum nichts als ungerechte Zerstörung, Bösartigkeit und – Tod?
Sie kamen an der alten Kirche vorbei, die griesgrämig und teilnahmslos inmitten des Friedhofs dahockte. Mühsam gelang es Geibel, die Schubkarre über die schlammige Straße zu schieben, dann waren sie da. Der Gasthof schien den Sturm ohne größere
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