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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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Tür. »Das alte Holz hat geächzt und die Luft hat nach Salz geschmeckt.«
    »Ein schönes Haus«, sagte ich, um sie von der Traurigkeit abzulenken, die plötzlich ihre Augen verdunkelte.
    »Ja.« Ihr Lächeln war voller Sehnsucht. »Und es wartet auf mich.«
    Sie klappte das Album zu. Ihre Hände zitterten, und ich hätte sie gern festgehalten, damit sie sich beruhigten.
    Mit ihrer brüchigen Stimme begann sie leise zu singen, ein Lied, das ich nicht kannte, in dem ein Kuss vorkam, Treue, ein alter Baum und eine verlorene Liebe.
    Mir war zum Heulen zumute oder danach, Frau Sternberg in die Arme zu nehmen und nie mehr loszulassen. Wenn ich nicht schon eine Großmutter gehabt hätte (und was für eine), dann hätte ich in diesem Augenblick Frau Sternberg dazu erkoren.
    Das Lied war zu Ende. Frau Sternberg saß eine Weile still neben mir und betrachtete ihre Füße, die in viel zu großen Schuhen steckten. Sie hatte sie wohl mit den Schuhen von jemand anders verwechselt. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und breitete sich dort aus, bis sie lauthals lachte.
    »Meine Füße …« Sie schnappte nach Luft. »Meine Füße … haben sich … verlaufen. In die falschen Schuhe. Jemand …« Sie konnte gar nicht aufhören zu lachen. »Jemand muss sie … nach Hause bringen.«
    Ihr Lachen riss mich mit. Es war ein fröhliches, gesundes Lachen. Frau Sternberg hatte einen absolut klaren Moment und wir freuten uns darüber.
    Sie drückte meine Hand. Und schaute mich an. Eine Spur ihres Lachens war noch in ihren Augen zu finden und in den vielen kleinen Runzeln darum herum.
    »Wenn du jemals Hilfe brauchst, Kind, dann komm zu mir. Ich bin immer für dich da.«
    Ich umarmte sie, was ich noch nie getan hatte. Und versuchte, das Frösteln abzuschütteln, das mich ganz plötzlich überfiel. Es war, als hätte Frau Sternberg einen Blick in die Zukunft geworfen. Und als hätte sie ein Fenster in ihrem Kopf aufgemacht und mir aus ihrer Verwirrung heraus eine Botschaft gesandt.
    Sie befreite sich aus meiner Umarmung und rückte ein Stück von mir ab, das Buch wie einen Schutzschild zwischen uns. Zu nah, sagte die neu erwachte Angst in ihren Augen, viel zu nah.
    Unbeholfen stand sie auf. »War nett, Sie kennenzulernen.«
    Ich sah ihr nach, wie sie mit winzigen Schritten in den zu großen Schuhen davonschlurfte.
     
    Die Geräusche taten ihr in den Ohren weh. Das Licht war so hell, dass es ihre Augen tränen ließ. Ihr Hals war trocken. Sie hatte Mühe zu schlucken. Sie hatte auch Mühe, die Wirklichkeit zu erkennen.
    Ich bin Mina. Ich sitze mit Merle im Auto. Merle fährt mich zu Tilo. Wir stehen an einer Ampel. Leute überqueren den Zebrastreifen. Tilo wird mir helfen. Wenn er kann. Alles wird gut.
    Beschwörungsfloskeln. Um ihre Angst herum gebaut wie  ein Zaun. Manchmal gab ihr das ein bisschen Geborgenheit. Wenn sie ihre eigenen Gedanken noch verstand. Sonst nützte nichts mehr. Dann konnte sie nur noch eintauchen in das große schwarze Loch.
    Sie hasste das Loch. Das Vergessen. Sie verlor sich selbst darin.
    »Alles in Ordnung mit dir?«
    Merle war so besorgt. Dabei waren sie sich gestern noch fremd gewesen.
    Und wenn ich gleich aufwache, und alles war bloß ein böser Traum? Wenn ich gar nicht verrückt bin und nie eine Therapie nötig hatte? Wenn sogar Tilo nur geträumt ist? Wenn Merle gar nicht neben mir sitzt und es sie überhaupt nicht gibt? Auch Jette nicht und die Katzen?
    Wenn der Vater noch lebt?
    Das Rot der Ampel war zu grell. Mina blinzelte. Vielleicht sollte sie etwas sagen. Doch manchmal vergaß sie, wie man sprach. Dann konnte sie nur Laute hervorwürgen. Und manchmal nicht mal das.
    Sie wünschte sich verzweifelt, die Ampel würde endlich auf Grün springen. Lange hielt sie es nicht mehr aus.
     
    Nachdem Merle ihn auf dem Handy erreicht hatte, war Tilo in die Praxis gefahren. Er wollte Mina in der Umgebung empfangen, die ihr vertraut war. In der kleinen Küche setzte er Wasser für einen Tee auf, denn er wusste, dass Mina gern Tee trank. Alles sollte sein wie sonst auch.
    Er schaute auf die Uhr. Sie konnten jeden Moment kommen. Es lohnte nicht, sich noch Arbeit vorzunehmen. Außerdem war er viel zu nervös. Die Nachricht über den Mord an Minas Vater war erst nach und nach richtig in sein Bewusstsein gedrungen.
    Vielleicht hätte er Imke sagen sollen, dass es Merle gewesen war, die ihn angerufen hatte. Und dass die Mädchen Mina bei sich aufgenommen hatten. Aber er hatte sich spontan entschieden, es nicht zu

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