Der Scherbensammler
denen helfen, die seine Hilfe tatsächlich nötig hatten. So war er hier gelandet, im schäbigsten Viertel der Stadt.
»Spielt lieber woanders«, sagte Merle zu den Kindern, »die Straße ist viel zu gefährlich.«
»Selber«, antwortete ein Achtjähriger ruppig. Ein Mädchen kicherte und verschluckte sich.
Merle ging achselzuckend weiter. Was Mina und Tilo wohl gerade besprachen? Musste Tilo nach Minas Geständnis nicht die Polizei informieren? Und was dann?
Das Eiscafé auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam ihr wie gerufen. Sie brauchte jetzt einen Ort, an dem sie eine Weile sitzen und unbehelligt nachdenken konnte. Rasch überquerte sie die Fahrbahn und betrat den schmuddelig wirkenden Raum, in dem nur fünf kleine Tische standen.
Merle war der einzige Gast. Sie bestellte sich einen Milchshake und sah durch die schmutzigen Fenster hinaus. Die Bedienung war etwa in ihrem Alter. Gelangweilt rauchte sie eine Zigarette nach der anderen. Ab und zu schaute sie zu Merle hinüber, um zu sehen, ob sie etwas brauchte.
Die Wände waren mit italienischen Landschaftsszenen bemalt. Aus Blumenampeln rankten dünne Grünpflanzen herab. Im Hintergrund sang der unvermeidliche Eros Ramazzotti sich die Seele aus dem Leib.
Merle war hergekommen, um zu überlegen, was sie tun sollte. Doch das war gar nicht nötig. Nach den ersten Minuten schon war ihr klar, dass sie Mina nicht einfach so zurücklassen konnte. Nicht dass sie zu Tilo kein Vertrauen gehabt hätte, aber Merle hatte in der kurzen Zeit mit Mina bereits so etwas wie ein Verantwortungsgefühl für das Mädchen entwickelt. Sie konnte das nicht leugnen und ungerührt zur Tagesordnung übergehen.
Tagesordnung! Das Hochzeitsessen! Merle kramte nach ihrem Handy und gab Claudios Nummer ein.
»Wo, zum Teufel, bist du?« Er ließ seinem Ärger freien Lauf. Das tat er immer, eine seiner Gewohnheiten, die es so schwierig machten, ihn zu lieben. »Mir wächst die Arbeit über den Kopf und du lässt mich sitzen, rufst nicht mal an!«
»Tut mir leid, Claudio.«
»Tut mir leid! Tut mir leid! Ein Hochzeitsessen! Du hast versprochen zu helfen!«
»Es ist was dazwischengekommen, Claudio. Ein Mädchen, das wahnsinnige Probleme hat. Und Jette und ich …«
»Jette und ich«, äffte er sie nach. »Ihr habt doch immer Probleme.«
»Vielleicht heute Abend, Claudio. Ja?«
»Mach, was du willst! Ciao!«
Betroffen starrte Merle auf das Display. Teilnehmer hat aufgelegt. Das machte er oft. Beendete ein Gespräch mittendrin. Außer sich vor Wut. Schnitt ihr einfach das Wort ab.
Aber diesmal würde sie sich das nicht gefallen lassen. Entschlossen drückte sie die Taste für Wahlwiederholung und überlegte, was sie ihm sagen wollte. Doch dazu gab er ihr gar keine Gelegenheit, denn er nahm das Gespräch nicht an.
»Idiot«, murmelte Merle vor sich hin. »Mistkerl. Chauvinist. Heirate doch deine Sizilianerin! Dann bin ich dich endlich los!« Die Verlobte in Sizilien gab es nämlich immer noch. Der arme Claudio hatte in all den Monaten noch nicht den geeigneten Zeitpunkt gefunden, die Verlobung aufzulösen. Wahrscheinlich fand er den Zeitpunkt nie.
»Wie dumm muss man eigentlich sein, um immer wieder auf seine Ausreden reinzufallen?«
Merle merkte, dass sie mit ihren Selbstgesprächen die skeptischen Seitenblicke der Bedienung auf sich zog. Sie trank aus und zahlte. Ihre Entscheidung war gefallen. Sie würde Mina nicht im Stich lassen. Aber vorher würde sie noch Jette anrufen, egal was die im Heim dazu meinten.
Jette meldete sich beinah flüsternd. Wahrscheinlich hatte sie sich schnell in eine Ecke verzogen, als das Handy klingelte.
»Entschuldige, dass ich dich während der Arbeit anrufe«, sagte Merle, »aber du musst ganz schnell in Tilos Praxis kommen.«
Mina hätte gern die Hand ausgestreckt, um Tilos Wange zu berühren. Sie hätte ihm gern gezeigt, wie froh sie war, hier zu sein. Es war, als wäre sie nach Hause gekommen, wenigstens für kurze Zeit.
Sie mochte diesen Raum, der immer kühl wirkte, selbst im Sommer. Seine Klarheit und die Strenge der Linien taten ihr gut. Dieser Raum war ihr oft ein Trost gewesen, wenn ihr alles zu viel geworden war. Hier hatte sie Tränen vergossen, war Albträumen begegnet, hatte vorsichtig Hoffnung gefasst, Stunden in quälendem Schweigen verbracht. Dieser Raum kannte sie besser als jeder andere Raum auf der Welt.
Und jetzt hatte sie es ausgesprochen. Hier. Das Unaussprechliche.
Ich habe meinen Vater ermordet.
»Das glaube ich
Weitere Kostenlose Bücher