Der Scherbensammler
nicht.«
Tilo hatte den Kopf geschüttelt. Und obwohl sie ihm alles anvertraut hatte, was sie wusste, nach und nach, langsam und mit großer Anstrengung, obwohl sie nichts verschwiegen hatte, war er bei seiner Meinung geblieben.
»Nein. Das glaube ich nicht.«
Wie konnte er so blind sein und ihre Schuld nicht sehen!
»Nun hör mir mal gut zu«, sagte Tilo.
Doch dann verstummte er.
Ich fand Frau Stein an ihrem Schreibtisch, wo sie sich meistens aufhielt, konzentriert über einen Haufen Papiere gebeugt, die Lesebrille vorn auf der Nase. Sie trug ihren Namen zu Recht, saß oft so reglos da, dass man meinen konnte, sie sei zu Stein erstarrt. Im größten Trubel blieb sie ruhig, gab präzise Anweisungen und verlor nie den Überblick.
Ihre Körperfülle war beträchtlich. Wenn sie sich bewegte, geriet alles an ihr ins Beben, das Doppelkinn, die mächtigen Arme, der Busen, die Schenkel. Wie ein fleischfarbener Wackelpudding wabbelte das Fett jeder Geste nach. Ein krasser Widerspruch zu ihrem Namen - wie so vieles an ihr widersprüchlich war.
Für die Heimbewohner legte sie sich, wenn es sein musste, mit jedem an. Das gefiel mir an ihr. Aber sie hatte auch unangenehme Seiten, war launisch, misstrauisch und häufig unbeherrscht.
Ich sagte ihr, dass ich dringend wegmusste, und bemühte mich, ihrem sezierenden Blick nicht auszuweichen. Sie kam mir vor wie ein Krokodil, hungrig, lauernd, bereit, im nächsten Moment zuzuschnappen.
»Weg? Wieso?«
Sie steckte sich die Lesebrille ins Haar. Wie ein Diadem. Herrschaftlich. So bewegte sich nur jemand, der im nächsten Leben als Kaiserin wiedergeboren würde.
Wie sollte ich ihr die bedingungslose Verlässlichkeit zwischen Merle und mir erklären? Dieses Einer für alle und alle für einen der Musketiere?
»Meine Freundin braucht mich«, sagte ich schließlich lahm.
Ihre Augenbrauen gingen in die Höhe.
Ich habe die unangenehme Angewohnheit, mich in heiklen Situationen um Kopf und Kragen zu reden. Das fiel mir rechtzeitig ein und diesmal machte ich den Fehler nicht. Ich schaute sie an und wartete schweigend auf ihre Reaktion.
Sie schien meine Bitte gründlich zu bedenken. Diese Augenbrauen! Sie machten mich ganz kribbelig.
»Also gut«, sagte sie dann. »Wenn es nicht zur Regel wird.«
Ich war so erleichtert und dankbar, dass ich ihr hoch und heilig versprach, sie nie wieder um einen Gefallen zu bitten. Zwei Minuten später war ich auf dem Weg zur Bushaltestelle, denn Merle hatte ja meinen Wagen genommen.
Ich hatte Glück. Der Bus ließ nicht lange auf sich warten. Ich suchte mir einen Platz am Fenster und hing meinen Gedanken nach. Merle musste einen triftigen Grund haben, wenn sie mich im Heim anrief. Es ging um Mina, so viel war klar. Aber wenn sie heil in Tilos Praxis angekommen waren, konnte Mina doch nicht in Gefahr sein.
Mein Magen meldete sich. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Und ausgerechnet heute hatte ich nichts Genießbares in der Tasche. Weder einen Müsliriegel, noch einen Keks, nicht mal einen Kaugummi.
Mir schräg gegenüber saß eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn. Er knabberte lustlos und verdrossen an einem Brötchen. Einem appetitlichen Brötchen mit Kürbiskernen und Mohn, das er nicht annähernd zu schätzen wusste. Ich wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster.
Ein paar Straßen von Tilos Praxis entfernt stieg ich aus und ging das letzte Stück zu Fuß. Ich hielt mich nicht besonders gern in dieser Gegend auf. Meistens wurde man von irgendwelchen Typen angemacht, die hier herumlungerten. Deshalb vermied ich die Abkürzung durch den Park und nahm lieber einen Umweg in Kauf.
Meine Mutter belächelte Tilos »soziale Ader«. Sie konnte nicht verstehen, dass er sich das Leben so schwer machte, wo er es doch so einfach hätte haben können. Mir gefiel das an ihm. Es machte seine Arbeit sinnvoll. Und Tilo besonders liebenswert.
Er hatte mit seiner Praxis eine Oase im tristen Grau dieses Viertels geschaffen. Das fing schon mit dem Brunnen in seinem Garten an. Das Plätschern des Wassers war so besänftigend, dass man augenblicklich zur Ruhe kam und seine Umgebung vergaß.
Und dann die geschmackvoll eingerichteten Räume. Ruth, die jeden begrüßte, als wäre er ein lang ersehnter Gast. Und natürlich Tilo selbst, offen und herzlich und nie schlecht gelaunt. Der einzige Makel, den ich bisher an ihm entdecken konnte, war seine Eitelkeit. Er verbrachte mehr Zeit im Bad als meine Mutter und das will was heißen.
Diesmal
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